Fang Weigui

Genese und Wandel des modernen

chinesischen Kultur- und Zivilisationsbegriffs

1.Die Polarität von Yi und Xia

2."Wo ist denn Xia ?!"

3."Suche in fremden Ländern nach neuen Stimmen"

4.Wenming/Zivilisation und Wenhua/Kultur

5.China: nur half-civilized?

6.Sich dem Guten zuwenden

1. Die Polarität von Yi und Xia

Im Chinesischen bezeichnete das Wort Yi ursprünglich Gegenden oder Menschen östlich von Zentralchina (Zhongyuan). Daher hat der Begriff von Anfang an eine negative Denotation und eben solche Konnotationen. Mit der Zeit gewann das Wort Yi immer mehr Allgemeingültigkeit und bezeichnete jetzt außer östlichen Nachbarn generell die 'Barbaren' der Peripherie - im Gegensatz zu Xia und Hua oder Huaxia (Begriffen, die sich beziehen auf das Reich der Mitte). Das Wort Yi, das eigentlichim abwertenden Sinne nur 'barbarische' Randbevölkerungen bezeichnete, die jedoch noch auf dem 'chinesischen' Boden oder auch in den Vasallenstaaten lebten, wurde seit der späten Ming-Dynastie und frühen Qing-Dynastie nicht nur weiterhin für die Menschen rings um das Reich der Mitte, sondern auch für die Europäer und Amerikaner benutzt, um eben die Minderwertigkeit der anderen Menschen und Kulturen - wenn man in anderen 'Welten' überhaupt noch Kulturen zu sehen glaubte - zu unterstreichen. Nun wurde sowohl die Intension (der Begriffsinhalt) als auch die Extension (der Begriffsumfang) des Wortes Yi erweitert, das einen bestimmten Zusammenhang und eine globale Referenz bildet, das Eigenschaften, Bewertungen u. dgl. bezeichnet.

Die Polarität von Yi und Xia, die eine herkömmliche Einstellung Fremden gegenüber ausdrückte,galt letztendlich als eine anthropologische Konstante und trug bei zur Herausbildung kultureller Codes. Für den im soziokulturellen Ambiente des Reiches der Mitte sozialisierten 'Durchschnittsmenschen' spiegelte sich in der von den besagten Begriffen gebildeten Binäropposition ja eine Art unumstößliche Feststellung: Man glaubte doch sicher zu sein, daß die politische Kultur der chinesischen Nation überragend und zugleich einzigartig sei, daß China als Zentrum der Welt gelten müsse, daß es außerhalb von China keinen ebenbürtigen Staat gebe. Diese Grundeinstellung erwies sich später besonders leicht als vorurteilsvolle Ethnozentrik, als Sperrhaltung der Xenophobie, und sie spiegelte sich dementsprechend auch in der lexikalischen Fixierung - in dem Ausdruck Yi.[1]

In den Aufzeichnungen der Sitten und Gebräuche verschiedener Länder im Westen (1895) von Song Yuren (1857-1931) finden wir eine lange Passage, die auf dieses Problem eingeht:

"Die ausländischen Mächte machen vereinte Anstrengungen, um China unter sich aufzuteilen. Daß sie dabei an demselben Strang ziehen, ist wohl nicht nur in ihren im großen und ganzen ähnlichen Konfessionen begründet, während unser Land ganz andere Glaubensrichtungen hat. Der Grund liegt gewißlich auch in der Diskrepanz zwischen Schein und Sein, also zwischen Vorstellung und Realität: die Realität ist unser riesiges Land mit reichen Ressourcen, die jedoch ungenutzt bleiben und daher die Begierde der Westler erregen, während unsere Vorstellung auf strenger Trennung zwischen dem Reich der Mitte und der übrigen Welt der Yi basiert. Also: China hat einen edlen Namen; in Wirklichkeit aber ist es derart verwahrlost, daß viele Menschen auswandern, daß nun Yi mit dem schönen Namen Chinas sich nicht abfinden wollen. In der Tat grenzt Chunqiu [Die Frühlings- und Herbstannalen] Yi und Xia ganz streng von einander ab; die Erläuterungen des Kanons haben aber seit je her allesamt die Quintessenz dieser Unterscheidung verfehlt. Die Fehldeutungen führen schließlich dazu, daß China seit der Han-Zeit von einer Yi-Katastrophe nach der anderen heimgesucht wurde - bis auf den heutigen Tag. Die Unterscheidung zwischen Yi und Xia im Kanon fußt jedoch ausschließlich auf li-yi, d.h. dem Niveau von Ethik und Ritual, nicht auf geographischer Entfernung. [...] Im Vertrag von 1858 wurde China definitiv untersagt, in amtlichen Dokumenten und offiziellen Schreiben für die Bezeichnung des Auslands und seiner Menschen weiterhin das Wort Yi anzuwenden. Der Vertrag bleibt zwar in Kraft, aber das Verbot erregt Argwohn: dies zeugt von der tiefen Kluft zwischen China und dem Ausland. Darüber hinaus zeigt es allzu deutlich: Die Gefühle der Menschen sind im großen und ganzen gleich und die Menschen sind stets auf ihren guten Ruf bedacht; aber in der Balgerei um Namen und Ruhm sind wir allen anderen überlegen. Die Fremden wissen nur, daß Yi eine entwürdigende Bezeichnung ist, kennen aber nicht den Grund dieser Minderwertigkeit. Ein Chinese weiß nur, daß Xia ein großer Name ist, kennt aber nicht den Grund dieser Großartigkeit. Daher stellt China wohl wegen seines prachtvollen Namens nur eine Zielscheibe dar. Ausgehend von der Mißdeutung des Kanons richtet dies großes Unheil an und bringt Konflikte und Kriege zwischen China und dem Ausland mit sich. [...] Die Bücher der Weisen aber neigen weder der einen Seite noch der anderen zu; zudem ist Yi oder Xia nicht etwa Errungenschaft des Kampfes. Es überläßt sich ja dem DAO. Und es ist wichtig, daß man seine Grenze kennt. Nur so kann man Argwohn beseitigen und berühmte Konfessionen respektieren. China ist in der Tat das Heimatland der berühmten Konfessionen - ein Land, das zu verehren ist."[2]

Vorab sei festgestellt, daß die Gründe der Konflikte und Kriege zwischen China und westlichen Mächten höchst vereinfacht von Song Yuren dargestellt wurden. Das von ihm angesprochene große Unheil, also der Einbruch des Westens in das Reich der Mitte, ist bestimmt nicht auf Mißdeutung des Kanons zurückzuführen. Sieht man aber von diesem - natürlich sehr wichtigen - Punkt ab, weil es nicht das Thema dieser Studie ist, und richtet man das Augenmerk auf jene Stellen, die auf die historische Quelle des Gegensatzes von Yi und Xia eingehen, retrospektiv die Anwendung von Yi und Xia betrachten und den aktuellen Stand analysieren, so erweisen sich Song Yuren's Ausführungen als überaus aussagekräftig und eine Schlußfolgerung daraus kann mindestens in folgenden Punkten zusammengefaßt werden:

Zum einen liegt hier ein früher Verweis auf ein historisches Dokument vor, das den Zeitpunkt angibt, von dem ab die Anwendung von Yi im öffentlichen Umgang mit dem Ausland verboten wurde unddas festhält, inwieweit diese Tatsache den Einwirkungen von außen her zuzuschreiben ist: Nach dem zweiten Opiumkrieg wurden 1858 in Tianjin zwei neue Verträge zwischen der Qing-Regierung und England auf der einen und Frankreich auf der anderen Seite abgeschlossen. Artikel 51 des 'Tianjin-Vertrags' zwischen China und England sieht vor, daß von nun an ein Engländer nicht als Yi degradiert werden darf. Angesichts der tradierten Soziokultur mit ihren die Bewohner der 'Peripherie' Chinas abwertenden, nicht nur offiziösen, sondern gängigen (das Bewußtsein der subalternen Klassen ebenfalls prägenden) Begriffen, Vorstellungen und Einstellungen ist es wohl nur auf diese Weise möglich gewesen, mindestens offiziell einen Schlußstrich unter den Gebrauch vonYi zu setzen. In der Tat fing man etwa um 1860 langsam an, statt Yi Yang zu benutzen - und zwar ausgehend von Guangzhou, das die Engländer gemeinsam mit den Franzosen 1858 erobert hatten.[3]

Wenn das Verbot des Gebrauchs von Yi mehr oder weniger ein Ergebnis der westlichen Kanonenpolitik war und uns von daher mit einer äußeren Ursache des Sprachwandels konfrontiert, so scheint zweitens ein sich abzeichnender Erkenntnisprozeß seitens vieler Intellekueller eben so wichtig gewesen zu sein, was dann als innere Ursache der Wandlung erachtet werden kann. Die ganze - oben zitierte - Argumentation von Song Yuren hat dies veranschaulicht. Übrigens stand er mit seinem Plädoyer zur Zeit des ausgehenden 19. Jhs., als seine Aufzeichnungen veröffentlicht wurden, schon längst nicht mehr allein da. Mit der Öffnung des Landes ist es nur natürlich, daß die Erweiterung und Bereicherung des Wissens über die Außenwelt sich im Wortgebrauch und ganz speziell auch in der Wahl des Begriffes Yi bzw. Yang widerspiegeln mußte. Bereits 1859 hielt Hong Rengan die Bezeichnung der Ausländer als Yi für eine Art 'psychologischen Sieg', der nicht einmal annähernd der Wirklichkeit entspreche.[4] Dies hat auch Wang Tao in den 70er Jahren des vorigen Jhs. in die Worte gefaßt: "Betrachtet man die aktuelle politische Situation, so sind Handelsbeziehungen zwischen China und dem Ausland eine Tatsache, die weiter bestehen wird wie die Erde. Von daher ist es wirklich sehr realitätsfern und unzeitgemäß, heute noch von Vertreibung und Vernichtung der Yi zu sprechen."[5] Eigentlich war diese Auffassung in der Zeit des ausgehenden 19. Jhs. bereits keine Seltenheit mehr. Aber die Tatsache, daß Song Yuren auch in dieser Zeit noch das Thema von Yi-Xia aufgriff, sagt an sich schon sehr viel. Um ihn noch einmal zu zitieren: "Der Vertrag bleibt zwar in Kraft, aber das Verbot erregt Argwohn."

Drittens: Offensichtlich liegt das Anliegen und die Intention von Song Yuren in erster Linie darin, einen großen Irrtum als ursächlich für die Spannung zwischen Yi und Xia zu identifizieren - einen Irrtum, der anscheinend seit jeher den meisten Menschen unterlaufen ist. Er ist daher bestrebt, im alten Geist des 'Zheng ming' - also der Richtigstellung der Namen, als Grundbestreben des Konfuzius - diesen Irrtum zu berichtigen. Daß selbst ein aufgeklärter Intellektueller und Diplomat wie Song Yuren sich am Ende nicht ganz aus dem alten Denkmodell, nach dem China als das Heimatland der berühmten Konfessionen gilt, heraushalten kann, liegt wohl weniger an der intellektuellen und moralischen Haltung als viel mehr an der sozialen Position des Autors, oder auch an dem starken Druck der politischen Gegner. Es geht ja in gewissem Sinne um eine erfolgreiche Argumentationsstrategie.

Das lange Zitat von Song Yuren, kreisend um die Opposition von Yi und Xia, wie überhaupt die ganze, von ihm knapp ins Auge gefasste geschichtliche Realität der Verwendung dieser Begriffe, hat uns, nebenbei, auf das anscheinend Natürlichste oder Normalste von der Welt verwiesen: Offenbar ist es eine immer wieder zu beobachtende soziokulturelle Tendenz, gleichsam ein anthropologisches Merkmal der menschlichen Gattung, daß der Mensch seine eigene Praxis und deren Hervorbringungen als etwas ihn in besonderer Weise Ausmachendes versteht, und zwar, müssen wir hinzufügen, in Abgrenzung von dem, was Natur ist oder ausmacht bzw. von Natur aus gegeben erscheint. In der menschlichen Praxis und ihren Hervorbringungen gründet mithin - im weitesten Sinne - der Gegenstandsbereich der Kategorien 'Kultur' und 'Zivilisation'. Im Gebrauch der beiden Begriffe scheint jedoch sehr oft nicht nur das Verhältnis zwischen Mensch und Natur auf, sondern zugleich damit auch das Verhältnis zwischen dem Eigenen und dem Anderen (Fremden). Aus begriffsgeschichtlicher Perspektive zeigt die chinesische Unterscheidung zwischen Yi und Xia in hohem Maße eine Ähnlichkeit mit einem anderen, für die Entwicklung des europäischen Kulturbegriffs konstitutiven Begriffspaar, dem von 'Barbar' und 'Grieche': wer kein Grieche war, der war ein armer 'bárbaros'. Der Kulturbegriff ist ein in letzter Instanz positiv besetzter Wertbegriff. 

Der inhärente Nexus dieser Kategorie mit einer implizit oder explizit gegebenen, positiven Wertung bringt nun eine interne Differenzierung des Begriffs der Kultur mit sich, und zwar dergestalt, daß man diesen oder jenen Personen, Personengruppen, Ethnien oder Nationen eine größere oder geringere Teilhabe an 'Kultur', ein höheres oder niedrigeres Kulturniveau zuspricht. Im äußersten Fall wird eine Teilhabe an jedweder 'Kultur' sogar gänzlich negiert, wie der wirkungsgeschichtlich bedeutsame griechische Ausdruck 'Barbar' (barbaroV), von dem bereits die Rede war, und das von ihm abgeleitete Adjektiv belegen: Termini, die vor allem in der Neuzeit häufig als Gegenbegriffe zu 'Kultur' und 'Zivilisation' bzw. zur Vorstellung von den 'Kultivierten' und 'Zivilisierten' gebraucht wurden.

2. "Wo ist denn Xia?!"

Im 19. Jh., als Begriffe wie 'Kultur' und 'Zivilisation' geradezu zu Sinnbildern des gesamteuropäischen Selbstbewußtseins, ja sogar eines Überlegenheitsgefühls wurden, wurde in China der Mythos, daß das 'Reich der Mitte' im Zentrum der Welt läge, zerstört und zugleich damit das chinesische Weltbild mit seiner zentralen Vorstellung vom Kaiser von China als dem obersten Herrscher über alle Völker und Länder dieser Erde aus den Angeln gehoben. China ist ja nur “shijie zhi zhongguo”[6] (one of the world’s nations). Dieser 'großen geographischen Entdeckung' folgten noch einige weitere wichtige 'Entdeckungen' in der zweiten Hälfte des 19. Jhs.: die Entdeckung westlicher Technik, die der Verwaltungs­theorie(n) und -praxis(formen) des Westens, die der Staats- und Kultur­wissenschaften und schließlich sogar die des westlichen politischen Systems (in seinen unterschied­lichen Abschattungen und Spielarten, von der Republik bis zur konstitutionellen Monarchie). All dies hat aber wenig geholfen, das kranke 'alte China' vor seinem Untergang zu bewahren - im Gegenteil: die nationale Krise und die Ohnmacht Chinas gegenüber den fremden Mächten schien Tag für Tag größer zu werden. Die "nominelle Unabhängigkeit Chinas" blieb nur deswegen erhalten, weil sich die westlichen Mächte "nicht über die Aufteilung des riesigen Kadavers einigen" konnten.[7] Aber die großen 'Entdeckungen' mit ihrem damals so revolutionären Erkenntnis­gewinn bleiben nicht spurlos verschollen. Gerade in jener wechselvollen Zeit, im Zuge einer weitestgehend von außen oktroyierten Begeg­nung mit dem Westen, findet ein signifikanter Paradig­menwechsel in China statt, der vor allem die Vorstellung von Zivilisation betrifft.

Das bis dahin nie ernsthaft angefochtene Paradigma der ostasiatischen Zivilisation wird zuerst schrittweise, dann kompromißlos, zuerst von den Reformern, dann von immer weiteren Kreisen vor allem der städtischen chinesischen Gesellschaft ersetzt durch ein anderes, wonach Zivilisation in vieler Hinsicht gleichbedeutend ist mit moderner, westlicher, gleichsam 'auf der Höhe der Zeit' befindlicher Zivilisation, während das eigene Erbe nicht nur ohne jede positive Bedeutung ist, sondern noch dazu immer deutlicher ein Hindernis für jeden Fortschritt - ein Relikt einer zu über­windenden Gesellschaft, deren man sich nur schämen kann. Es war Lun Xun (1881-1936), einer der wenigen nüchternen Denker jener Zeit, der 1907 in seinem Artikel "Über falsche Tendenzen in der Kultur" nicht ohne Ironie diese Tendenz aufgezeichnet hat: "Da China in der ganzen Welt für sein Selbstwertgefühl bekannt ist, wird es von Leuten mit einem Hang zur Verleumdung als ignorant und halsstarrig bezeichnet, ja man behauptet sogar, China werde selbst um den Preis seines Unter­gangs an Über­lieferungen und Fehlern festhalten. In letzter Zeit hat manch einer, kaum daß er vage etwas von moderner Wissenschaft gehört hat, sich beschämt gefühlt und die Absicht gefaßt, sofort Reformen durchzuführen. Was nicht mit westlichen Grundsätzen über­einstimmt, soll nicht ausgesprochen, was westlicher Methodik widerspricht, nicht verwirklicht werden. Man könne gar nicht konsequent genug der Tradition eine Absage erteilen. Auf diese Weise würden die Fehler der Vergangenheit korrigiert sowie Wohlstand und Macht des Landes beflügelt. [...] wenn Vertreter dieser Gruppe lauthals ihre Ausrufe erlassen, dann berufen sie sich alle ausnahmslos auf die moderne Zivilisation. Wer sich ihren Forderungen entgegenstellt, wird gar vielleicht als 'Barbar' tituliert."[8] Lu Xun kommentiert hier - in sich bereits andeutender, kritischer Distanz - den neuen Zeitgeist einer Umbruchsepoche, in der die Auffassung von der selbstverständlichen kulturellen Überlegenheit Chinas abrupt durch die außenpolitischen bzw. militärischen Ereignisse - mit allen ihren auch innen­politischen Rückwirkungen - infragegestellt worden war, was die jungen, auf 'Moder­nisierung' setzenden Kräfte zu einer oft scheinradikalen, kritiklosen Unterwerfung unter modische Strömungen und Einflüsse aus dem Westen veranlaßte. Es mußte einen kritischen Geist wie Lu Xun amüsieren, wie sie - die junge 'Elite' eines Landes, in dem vor kurzem noch von Westlern elitär als von Barbaren gesprochen wurde - nun das Wort Barbar als Kampfbegriff gegen ihre traditionalistischen Widersacher (aber auch gegen fortschrittliche Kritiker einer gedankenlosen Absorption westlicher Einflüsse) wendeten.

Fast 50 Jahre vor Lu Xun, als um 1860/61 Feng Guifen (1809-1874) in seinem bekannten Jiaobinlu kangyi [Gewagte Ansichten aus Jiaobinlu] über Yi (also Barba­ren) sprach, hatte das Wort Yi bereits jene negative Konnotation verloren, welche 'rohe, empfindungslose Menschen ohne Kultur' meinte; der Begriff bezeichnete nun viel­mehr beneidenswerte Menschen und Länder in Europa und Nordamerika. Der Autor benutzte Yi wohl nur noch dank eines gewissen 'Gewohn­heitsrechts' - und vielleicht auch aus einem rhetorischen Grund, um nämlich durch den ver­änderten diskursi­ven Kontext die neue Konnotation schlagartig zu verdeutlichen und so seine Auf­fassung bezüglich der von ihm aufgelisteten 'vier Nicht-Ebenbürtig­keiten' besser propagieren zu können und populär zu machen. China, so verdeut­lichen die von ihm angeführten 'Nicht-Ebenbürtigkeiten', fällt im Vergleich zu den Yi (den 'Barbaren', sprich Westlern, bzw. dem 'Westen') in mehrfacher Hinsicht ab: "Bezüglich der Tatsache, daß Talente nicht unbeachtet bleiben, können wir den Yi nicht gleichkommen; bezüglich der Tatsache, daß der Boden nicht 'un-nützlich' bleibt, können wir den Yi nicht gleichkommen; bezüglich der Tatsache, daß Herrscher und Volk nicht durch eine breite Kluft getrennt sind, können wir den Yi nicht gleichkommen; bezüglich der Tatsache, daß der Ruf der Wirklichkeit entspricht, können wir den Yi nicht gleichkommen."[9] Diese für die damalige Zeit ungewöhnlich scharfe Kritik an der eigenen Kultur und den eigenen Verhältnissen ist ohne weiteres anerkennenswert, wobei hier die Zustände des Westens oder der 'Yi' (wie für uns Heutige leicht ersichtlich ist) von Feng Guifen übertrieben gerühmt worden sind. Blickt man jedoch auf die ganze Entwicklung hinsichtlich der Modernisierungsbemühungen nach der Öffnung Chinas zurück, kann man unschwer feststellen, daß gerade diese emotionbeladene These sowie das darin zum Ausdruck kommende starke Krisengefühl eine entschei­dende Antriebskraft zum Streben nach Wandel und nach Neuem, und implizit gleich­sam ein wichtiges, auf ein Gleichziehen mit dem Westen in den vier kritisierten Punkten abzielendes Postulat im Kontext der Entstehung verschiedender Reform­gedanken darstellt. Der Widerwille von Tan Sitong (1865-1898) aus dem Jahr 1895 ist realiter wie aus einer Form der 'vier Nicht-Ebenbürtigkeiten' gegossen: "Die Moral, Sitten, Politik und Gesetze des heutigen China können sich in keiner Hinsicht mit denen der Yi-Barbaren messen. Wo ist denn Xia!"[10]

Die tiefe Erschütterung jenes kulturellen Selbstverständnisses, welches die Herrschaft der traditionellen 'gesellschaftlichen Eliten' jahrhundertelang legitimiert und die Dominanz Chinas auf dem ostasiatischen Festland widergespiegelt hatte, kam in der Tat letztlich vor allem von außen. Überblickt man den Wandel und die Entwicklung der chinesischen Geistesgeschichte zwischen 1840 und 1900, so kann man ohne große Schwierigkeiten feststellen, daß es sich bei der einsetzenden chinesischen Kritik der in der eigenen Gesellschaft vorgefundene Zustände und Verhältnisse und bei den davon abgeleiteten Reformvorhaben vor allem um Reaktionsbildungen auf die west­lichen Penetrations- und Annektionsversuche handelt und daß die Abwehr des west­lichen Ansturms - mit ihrem Bemühen um Anpassung an radikal neue Erfordernisse - die entscheidende Antriebskraft der innerchinesischen Entwicklung in jener Zeit darstellte. Fast alle neuen Ideen und Strömungen fußten auf dem Erkennen der Krise, auf dem Erwachen vieler Intellektueller - dies in einer Zeit, die in der westlichen Geschichts­schreibung oft als 'treaty system' dargestellt, in China jedoch als Zeit der 'ungleichen Verträge' bezeichnet wird. Die Entdeckung der neuen, veränderten Situation, die die Chinesen dazu zwang, sich entsprechend diesen unvorhergesehenen Umständen einzu­richten, war eine wichtige Prämisse für verschiedene Diskurse der erwachenden Intel­lektuellen. Von daher sind die erwähnten sechzig Jahre eine historisch entschei­dende, gleichsam einzigartige Übergangszeit, in der unter west­lichem Einfluß die 'neuzeitlichen' Ideen Chinas sich zusammenbrauten.[11] In dieser großartigen Entdeckungszeit haben die Vordenker und Reformer im Zusammenhang und Zusammenspiel – um nicht zu sagen, in Wechselwirkung - mit dem 'Xixue', also dem 'westlichen Wissen', nicht nur neue Begriffe wie 'Demokratie', 'Freiheit', 'Gleichheit', 'Menschenrechte', 'Parlamentarismus', 'Sozialismus' usw. den Chinesen näherzubringen versucht; sie haben auch nicht nur unter Bezugnahme auf das gerade neu kennengelernte 'Völkerrecht' ausdauernd die Ungerechtigkeit der seitens der Westmächte durchgesetzten 'Exterritorialität' - also der westlichen Souve­ränitätsrechte auf chinesischem Boden - hervorgehoben und entsprechend nach der territorialen Souveränität Chinas verlangt. Die darüber hinaus vollbrachte Pionier­leistung vieler spät-kaiserlicher Intellektueller ist evident und besteht - abgesehen von der Vorstellung neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse - hauptsächlich darin, daß durch ihre Bemühung eine feste und breite Basis für die adaptierende bzw. den eigenen Bedürfnissen gemäße, verändernde Übernahme westlichen Gedanken­guts einerseits und für den erneuernden, intellektuellen Schaffens­drang andererseits produziert wurde - realisiert mehr oder weniger durch eine Politik der offenen Tür im Geistes­leben, ohne die später die 4.-Mai-Bewegung mindestens nicht in der gekannten Form vorstellbar wäre.[12] Das Erwachen der Intellektuellen in der spät-kaiserlichen Zeit erwies sich als richtungweisend und das Ergebnis läßt sich vielleicht am ehesten dergestalt zusammenfassen, daß der damit real gewordene Drang nach Horizonterweiterung und nach Erkenntnissen, welche die traditionellen Fesseln sprengten und welche in der Folge einen 'spread'-Effekt mit sich brachten, de facto den 'Dünkel' der damals in eine tiefe Krise gestürzten chinesischen Kultur (wie sie vor allem den gesellschaftlich dominanten Schichten emotional und intellektuell präsent war) ein für alle Mal als überholt abge­stempelt hat.[13]

3. "Suche in fremden Ländern nach neuen Stimmen"

Die Beziehungen zu den westlichen Staaten wurden im Laufe des 19. Jhs. immer antagonistischer. Der Schock der Niederlagen - im Opiumkrieg von 1839/42, dann 1895 im Krieg gegen Japan, und zuletzt die Erniedrigung im Zuge der westlichen Intervention gegen die 'Boxer' (1900) - hatte ohne Frage einen katalysatorischen Effekt und bewirkte, daß zumindest wache Köpfe, mehr und mehr aber auch die einfache Bevölkerung, China und seine 'überlegene' Zivilisation mit anderen Augen sahen. Obwohl in den letzten 60 Jahren des 19. Jhs. die Macht der traditio­nellen Ideologie alles andere als von der Bühne der Geschichte abgetreten ist - es war ja die Tradition, die letztendlich die Basis für die Bemühungen um Anpassung an die neue Lage bildete -, war unverkennbar eine andere, mit dem Schlagwort der allmäh­lichen 'Verwestlichung' nur grob und undialektisch, dafür aber um so wirkungsvoller bezeichnete Richtung eingeschlagen worden. Man kann anhand der historischen Quellen belegen, daß es im Zuge des Kontakts mit dem Westen nach und nach zu vielfältigen und komplexen kulturellen Reaktionen kam: die Erscheinungs­formen dieser Reaktionsbildungen reichten von einer verstärkten Bereitschaft zur Abschottung bei gleichzeitigem kompensatorischen Stolz auf die eigene Kultur sowie von Ver­suchen, gleichsam einen technischen (vor allem militärtechnischen) Vorsprung des Westens wettzumachen, ohne die eigene - mit der veralteten Tradition identifizierte - kulturelle 'Identität' preiszugeben, bis hin zu einer enthusiastischen Weltoffenheit und einer Bereitschaft, Hals über Kopf die 'allochthone' Kultur, nicht nur ihre Wissen­schaft und Technik, als Inbegriff aller 'modernen' Kultur überhaupt zu rezipieren und fortzuführen.[14] So sehen wir im Diskurs über die Modernisierung Chinas immer wieder, daß man die Verwestlichungstendenz nicht nur mit der Stärkung des Landes verband, sondern auch zur Legitimation der Verwestlichung die ganzen darauf abzielenden Bemühungen mit daotong, d. h. mit der konfuzianischen Orthodoxie in Einklang zu bringen suchte. Für Wang Tao (1828-1897) sind "die westlichen Methoden die ein­zigen, um damit eine starke Armee aufzubauen und das Land reich und mächtig zu machen. [...] Lebte Konfuzius in der heutigen Welt, würde er ebenso dafür eintreten, die westlichen Methoden für die Produktion von Schiffen und Fahrzeugen, Gewehren und Kanonen sowie Maschinen zu übernehmen".[15] Guo Songtao (1818-1891) schwört sogar auf die legendären vordynastischen Herrscher: "Lebten Yao und Shun heute noch, würden sie nicht einen Tag mit der Verwendung westlicher Methoden zögern."[16] Eine ähnliche Position vertritt Tan Sitong, der für Veränderungen bezüg­lich der chinesischen Ethik, der Wissenschaften, ja sogar der Kleidung plädiert: "Der Zhou-Herrscher und Konfuzius würden auf keinen Fall mit unseren heutigen Metho­den die heutige Welt regieren."[17] Die radikal­ste Meinung artikulierte sich 1898 in der Äußerung eines Fan Zhui (1872-1906): "Die Überlieferung restlos abschaffen und alles nur nach Westlichem ausrichten."[18]

Der Kultur- und Zivilisationsbegriff ist, als das 19. Jh. zuendegeht, fraglos nach wie vor von den Traditionalisten besetzt. Diese Konservativen behaupten immer noch eine Überlegenheit der in Fragen der sozialen (oder 'Stände'-) Ordnung, der Organisation des Staates, aber auch der innerfamiliären Hierarchie alles entscheidenden konfuzianistischen Weltanschauung und betonen deren Gültigkeit und Effizienz im Alltag;[19] sie konzedieren aber z. T. eine - schädliche und daher aufzuhebende - Unterlegenheit gegenüber der barbarischen westlichen Kultur, vor allem in der Technik und den Naturwissenschaften. Mitten in der Modernisierungsbewegung (yangwu yundong) oder Selbststärkungsbewegung (ziqiang yundong) veröffentlichte Xue Fucheng (1838-1894), eine bedeutende Persönlichkeit im Kontext dieser Bemühungen, im Jahr 1885 seine Aufsatzsammlung Chou yang chuyi [Meine bescheidenen Ansichten über die Modernisierung], die im Jahr 1879 vollendet wurde. Die Essenz des Ganzen findet sich ohne Zweifel in dem wichtigsten Artikel der Sammlung ausgedrückt, in "Bianfa lun" [Über die Reform]. Unter den Yangwu-Protagonisten war Xue Fucheng der erste, der das Banner der 'Reform' erhob. Angesichts einer Weltlage, bei der "der Westen in Führung liegt", plädierte er für eine Reform vor allem technischer und auch organisatorischer Art: "Wir müssen Handel und Bergbau betreiben; denn ohne einen Wandel einzuleiten, bleiben wir arm und die anderen reich. Wir müssen Maschinen und Geräte sorgfältig bauen; ohne Wandel bleiben wir ungelenk und die anderen flink. Wir müssen die Einführung von Eisenbahn, Dampfer, Telegraphie in Angriff nehmen; ohne Wandel bleiben 

wir langsam und die anderen schnell. Wir müssen Regeln und Satzungen aufstellen, Talente fördern, das Militärsystem und die Aufstellung von Truppen optimieren; ohne Wandel bleiben wir schlaff und schwach, die anderen einträchtig und stark." [20] Dies ist exakt die Folie, vor der bereits in den achtziger Jahren des 19. Jhs. die frühen reformistischen Schriften die Idee verbreiten: zhong xue wei ti, xi xue wei yong - was so viel heißt wie 'die Lehren Chinas als Grundlage (Substanz) nehmen, die Lehren des Westens für den praktischen Gebrauch' [über-] nehmen.[21] Dieses mit den gemäßigten Konservativen geteilte, auf 'dem chinesischen Wesen' insistierende frühe Reformkonzept erweist sich allerdings bereits angesichts der im chinesisch-japanischen Krieg 1894/95 erlittenen, demüti­genden Niederlage als untauglich. "Selbst wenn Waffen etwas auszurichten vermöchten, wie behauptet wird, was nützten sie in großer Zahl einem schwachen Volk?"[22] - so begann man zu fragen.

In Intellektuellenkreisen erkannte man sehr bald, daß nur tiefgreifende gesellschafts­politische Reformen China retten konnten. Dies ist die Zeit, in der die oppositionellen Gebildeten wie Kang Youwei (1858-1927) und Liang Qichao (1873-1929) tatkräftig Reform und 'die neuen Wissenschaften' (xinxue) propagierten.[23] Als erster übersetzte nun Yan Fu (1854-1921) eine ganze Reihe (bürgerlicher) gesellschaftstheoretischer Werke Europas.[24] Die Anstrengungen der frühen chinesischen Aufklärer dieser Epoche und die ganze von ihnen ausgelöste 'Modernisierungsdebatte' laufen schließlich darauf hinaus, daß es von den wachsten Geistern immer deutlicher als entscheidend begriffen wird, sich von den überlebten Strukturen zu lösen und auf der Grundlage 'europäischer' Gedanken wie Freiheit und Gleichheit eine neue Moral, eine neue Einstellung und einen neuen Geist in China Fuß fassen zu lassen. 

Streben nach Wandel und nach Neuem - darin besteht nun in zunehmendem Maße das gemeinsame Moment im Bewußtsein fast aller Reformer nach der Öffnung Chinas. "Suche in fremden Ländern nach neuen Stimmen"[25] war ein allgemeines Phänomen. Die Reformanregungen und -konzepte, angefangen bei Feng Guifen und bis hin zu Kang Youwei und anderen, sind jedoch ohne Ausnahme partiell und beschränkt. Wenn auch Kang Youwei in seinen verschiedenen Denkschriften an den Thron Reformen der Politik und Wirtschaft, des Militär- und Erziehungswesens berücksich­tigt hat, geht es dort hauptsächlich nur um konkrete Vorschläge und weniger um einen radikal refor­merischen ideellen Gehalt. Der erste, der in der modernen Geistesgeschichte Chinas an einen 'totalen Wandel' denkt und dafür eine Lanze bricht, ist Liang Qichao - zuerst in der von ihm, Huang Zunxian (1848-1905) und Wang Kang­nian (1860-1911) gegrün­deten «Die Zeit» (Shiwu bao, 1896). Die Idee des 'totalen Wandels' ist ohne weiteres von seiner Kenntnis jener neuzeitlichen und modernen Zivilisation des Westens abgeleitet, die selbst seit der Renaissance sowie im Zuge der Aufklärung eine tiefgreifende, umfassende Wandlung erfahren habe, dermaßen, daß "eine neue Welt entstanden ist".[26] Angesichts der neuen weltweiten Entwicklung gebe es daher keine Alternative mehr zur Reform.[27] Auf­grund der gleichen Erkenntnis schrieb er 1902 in dem Artikel "Erläuterungen zu Reform und Revolution" (Shi ge): "Sie [d. h. die reformerische Politik] wird auf keinen Fall wirksam, wenn man denkt, daß es im heutigen China bereits mit der Reform von ein paar Nebensächlichkeiten getan sei und dies schon Nachahmung europäischer, amerikanischer und japanischer Reformen bedeute. Die anderen haben ja alle große Reformen bzw. eine große Revolu­tion durchgemacht."[28] In demselben Text und eben im Sinne der 'großen Revolution' hat er die These von der Notwendigkeit einer "totalen Umwandlung des Volks" (guomin biange)[29] aufgestellt, und zwar als Schwerpunkt und Ziel der 'großen Revo­lution'. Dies ist der Kern des von ihm in die Wege gelei­teten, ambitionierten Projektes der Erziehung der Massen zur geistigen und politi­schen Reife - eine Aufgabe, die übrigens (selbst wenn Liang Qichao das nicht wissen konnte) auch im Westen immer noch ihrer Bewältigung harrt.

4. Wenming-Zivilisation und Wenhua-Kultur

Bereits im der Zeit des Erasmus - im durch zunehmend säkulare und humanistische Tendenzen gekennzeichneten 16. Jahrhundert also – erfuhr in Europa der anachronistisch gewordene, traditionelle (das heißt, im Kern noch mittelalterlich-christliche) Kulturbegriff eine drastische Uminterpretation. Es ist unbestreitbar, daß davon nicht zuletzt starke Impulse auf eine ganz neu verstandene Bildung und Wissenschaft ausgingen. Der moderne, umfassende Kulturbegriff jedoch, der im wesentlich noch immer grundlegende Gültigkeit beanspruchen kann, ist in Europa erst in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. entstanden. Seinen kategoriellen Ausdruck findet er im Deutschen in dem sehr alten, von seinem lateinischen Vorläufer 'cultura' abgeleiteten Begriff 'Kultur'; im Französischen und im Englischen dagegen figuriert an seiner Stelle die Neubildung 'civilisation'. Sowohl der eine wie der andere Begriff umgreift semantisch die Totalität menschlicher Praxis, ob es sich nun um Selbstveränderung (bzw. Selbsterziehung oder auch Selbstverwirklichung) handelt, oder aber um gesellschaftliche (den bzw. die Anderen und die Natur) verändernde Praxis.

Mitgedacht erscheint die kulturelle Praxis wie auch ihre Resultate, faßbar in den verschiedensten Erscheinungsformen: der des kultivierten Menschen, jener der kultivierten Natur, nicht zuletzt jener der hervorgebrachten und nun zur Hand seienden, im Kulturprozeß einsetzbaren Kulturprodukte. Die diversen Aspekte des hiermit komplex abgedeckten, sehr weiten semantischen Bereichs traten natürlich im 18. Jahrhundert nicht erstmals ins Bewusstsein. Sie waren in der Regel schon früher in anderen Kontexten und unter Zuhilfenahme anderer Termini Gegenstand der Reflexion gewesen.[30] Im Chinesischen sind 'wenming' (heute verstanden als Zivilisa­tion) und 'wenhua' (verstanden als Kultur) keine Neologismen. Man findet die beiden Begriffe bereits in den frühen klassischen Texten wie Zhou-yi und Shu-jing. Die Entstehung und vor allem die Verbreitung eines modernen, umfassenden Kultur- und Zivilisationsbegriffs in China erfolgte jedoch in tiefgrei­fender, erhebliche Spuren hinterlassender Weise - beeinflußt vom westlichen Vorbild und, gemessen an der europäischen Aufklärung, mit einer Verzögerung von gut hundert Jahren [31] - erst im ausgehenden 19. Jahrhundert. Insbesondere um die Jahrhundertwende war es der Zivilisationsbegriff 'wenming', welcher plötzlich en vogue war und das Verlangen nach Adaptation, nach akkulturierender Aneignung des westlichen Zivilisations­modells widerspiegelte. Etwas später, in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, erlangte dann der Begriff 'wenhua' , verstanden im modernen Sinne von 'Kultur', allgemeine Verbreitung.[32]

Der japanische Historiker Ishikawa Yoshihiro hat 1995 in Garchy auf der "Conference on European thought in Chinese literati culture in the early 20th century" einen dem Thema dieses Vortrags ähnliches Referat gehalten [in der gedruckten Version: ...dem Thema dieser Studie ähnlichen Vortrag gehalten]: "Discussions about 'culture' and 'civilization' in modern China". Für ihn ist die Verbreitung des modernen Wenming-Begriffs in China vor allem Liang Qichao zu verdanken; von entscheidender Bedeutung sei dabei ein Text desselben aus dem Jahr 1896: "Lun Zhongguo yi jiangqiu falü zhi xue" [Plädoyer für den Aufbau der Rechtswissenschaft in China]. Ishikawa zufolge enthält dieser Text von Liang Qichao genau jene Passage, wo der chinesische Wenming-Begriff im heutigen Sinne zum ersten Mal erscheint.[33] Diskutiert man nur darüber, mit welchem Wort man 'civilization' ins Chinesische übersetzte, oder welches Wort seinerzeit als Äquivalenz zu 'civilization' betrachtet wurde, muß man sagen, daß man meines Wissens mindestens 60 Jahre früher als Liang Qichao bereits mit 'wenming' 'civilization' ins Chinesische übersetzte, und zwar in der Zeitschrift Eastern Western Monthly Magazine (darauf werde ich noch zurückkommen). Wenn man aber 'culture' [Kultur] und 'civilization' als einen Begriff auffaßt und dementsprechend nach der frühen Rezeption und Erkenntnis dieses Begriffs in China fragt, ist ebenfalls festzustellen, daß die Meinung von Ishikawa nicht greift. Ohne Zweifel ist es von großer Bedeutung, was für ein Wort man bei der Übersetzung wählt bzw. als Pendant zu einem fremden Begriff nimmt. Noch wichtiger ist jedoch das Erfassen des Begriffs an sich. Ishikawa weist u.a. darauf hin, daß sowohl 'wenming' als auch 'wenhua' nicht auf dem autochtonen Boden Chinas entstanden sind, sondern von Japan importiert und letztlich "in Japan produziertes Chinesisch" sind.[34] (Meines Wissens vertreten nicht wenige Forscher diese Auffassung.) Ishikawa verweist auf den Einfluß des Werkes Das Wesen der Zivilisation (1875) des japanischen Aufklärungsphilosophen Fukuzawa Yukichi (1835-1901) auf Liang Qichao und behauptet, Liang Qichao's Ausführungen über Zivilisation (wie z.B. "Ziyou lun" [Über die Freiheit] oder "Guomin shi da yuanqi lun" [Über zehn wichtige Charakterzüge des Volks oder Der Geist der Zivilisation]) seien Liang Qichao'sche Ausgabe von Das Wesen der Zivilisation.[35] Damit möchte Ishikawa in erster Linie belegen, daß der 'wenming' Begriff "aus Japan importiert werden mußte"[36].

Es ist allgemein bekannt, daß im modernen Chinesisch nicht wenige Äquivalente fremder (westlicher) Begriffe tatsächlich "in Japan produziertes Chinesisch" sind. Die endgültige Durchsetzung von 'wenhua' und 'wenming' als Übersetzung des modernen Kultur- und Zivilisationsbegriffs ist in der Tat mehr oder weniger von Japan beeinflußt. Wie groß aber dieser Einfluß ist, und schließlich auch (und vor allem), woher der moderne chinesische Zivilisationsbegriff eigens importiert worden ist, diese Fragen erweisen sich als komplizierter als man sich allgemein vorstellt. Eins sei aber vorab festgestellt: Der Begriffsinhalt kommt aus Japan, noch mehr aber aus dem Westen. In gewissem Sinne haben jedoch autochtone Faktoren eine große Rolle gespielt im Blick auf die Verbreitung des modernen westlichen Zivilisationsbegriffs in China. Wenn 'Kultur' und 'Zivilisation' im 19. Jh. primär ein - wenngleich national getöntes - europäisches Selbstbewußtsein zum Ausdruck bringen, das Bewußtsein, gemeinsam an der Spitze einer umfassenden weltgeschichtlichen Fortschrittsbewegung zu stehen, so ist die Verbreitung und Popularisierung des Zivilisationsbegriffs in China letztendlich ein Ergebnis der Identitätskrise und Selbstreflexion der Chinesen.

Der alte chinesische Kulturbegriff (mit seinen verschiedenen Ausdrucksweisen und Binnendifferen­zie­rungen) zeigt eine Aufspaltung, die noch komplexer ist als die in den europäischen Sprachen vorgefun­dene.[37] In begriffsgeschichtlicher Perspektive lagen – trotz aller ideologischen Polemiken des späten 19. und frühen 20 Jahrhunderts - der deutsche Kultur- und der französische oder englische Zivilisationsbegriff zunächst nicht sehr weit auseinander. Gemeinsam ist ihnen zum einen die Betonung des prozessualen Charakters, geht es doch um menschliche kultivierende bzw. kulturelle Tätigkeit. An diesen frühen semantischen Kern, bei dem es um den Vorgang der Kultivierung des Menschen und seiner Umwelt geht, schließt sich in der Folge eine zweite Bedeutung, nämlich eine vom semantischen Ausgangspunkt abgeleitete Bedeutungserweiterung an: man denkt nun die Ergebnisse der kultivierenden Tätigkeit mit; die Rede ist also vom kultivierten Menschen und schließlich auch von der Gesamtheit der Kulturprodukte. 

Mit dem Begriff der 'Kultur' (bzw. Zivilisation) kann man nun sowohl 'Kultivierung' als auch verwirklichte 'Kultiviertheit' meinen, wobei diese Aspekte sich berühren und ineinander übergehen. Was diesem Kulturbegriff zur Durchsetzung verhalf und zugleich seine weitere inhaltlichen Entfaltung begünstigte, war seine historische und zugleich auch grundlegende geschichtsphilosophische Verankerung.

Die Geschichte des Begriffs im 19. und 20. Jahrhundert ist dann in der Folge geprägt von einem weiteren semantischen Wandel, bei dem seit etwa 1880/1900 mindestens zeitweise sehr stark der Akzent in die Richtung einer ideologischen Betonung einer hypostasierten Kultiviertheit der Europäer und ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse verschoben wurde. Die Kultiviertheit der Europäer bildete gleichsam ihre zweite Natur. Es ist nur natürlich, daß damit die fortschrittliche Betonung des Prozesscharakters und damit des Zusammenhangs von menschlicher Praxis und Kultur noch stärker in den Hintergrund trat. Die vorherrschende, verdinglichende Sicht führt zur auftrumpfend 'universalistischen' Beschwörung einer - die spezifischen geschichtlichen Beiträge der Völker der Welt als Anachronismen und nur noch ethnologisch interessante Folklore – beiseiteschiebenden, alleingültigen, europäisch-westlichen, modernen 'Kultur' und 'Zivilisation'. Der rationale Kern dieser Auffassung ist die Einsicht, daß die Kultur bzw. Zivilisation in umfassender Weise sämtliche Aspekte des modernen Leben umgreift: die moderne Gesellschaft mit ihrem Staatsapparat und seiner rechtlichen Verfaßtheit, ihren wirtschaftlichen Verhältnissen, die Wissenschaften und die Technostruktur, Philosophie, Moral und Religion sowie nicht zuletzt die Künste. Die Würdigung der materiellen Sphäre, wie sie die Begriffe Zivilisation und Kultur im europäischen Kontext verkörperten, sollte jedoch bald schon durch einen spezifisch deutschen Diskurs infragegestellt werden. Man muß sich im klaren sein, daß es letztlich ein Ausdruck des Ressentiments war, der in Deutschland jenen bornierten und elitären Kulturbegriff hervorbrachte, welche die materielle Sphäre als minderbedeutend auszuschließen trachtete. Es ist Norbert Elias, der auf die lange Zeit gängige, und noch immer im Sprachgebrauch nachklingende deutsche Abwertung des Begriffs der Zivilisation zugunsten eines nun auf 'das Geistige' eingeengten Kulturverständnisses hingewiesen hat: "Im deutschen Sprachgebrauch bedeutet 'Zivilisation' wohl etwas ganz Nützliches, aber doch nur einen Wert zweiten Ranges, der nämlich die Oberfläche des menschlichen Daseins umfaßt. Und das Wort, durch das man im Deutschen sich selbst interpretiert, durch das man den Stolz auf die eigene Leistung und das eigene Wesen in erster Linie zum Ausdruck bringt, heißt ‘Kultur’."[38]

Wenn man dagegen von 'civilisation' im Französischen spricht, auch wenn man nicht gerade 'la (grande) civilisation française' sagt, so ist das in der Regel nicht abwertend und meint nicht 'das bloß Nützliche'. Ähnlich im Englischen. Das Konzept der 'civilisation' steht mindestens gleichwertig neben dem Begriff der Kultur, und nähert sich sogar semantisch dem Begriff der Kultur an - und zwar einem Kulturbegriff, der die geistige wie die materielle Kultur umschließt. Letztlich ist dieser als historisch verstandene, durchaus materialistische Kulturbegriff der souveränere. Die deutsche Rückständigkeit der materiellen Zivilisation (im Vergleich zu Frankreich und England), wie sie über weite Strecken des 19. Jahrhunderts unbezweifelbar bestand, wurde durch den idealistischen Verweis auf die kulturelle Größe, die man im Kopf mit sich herumtrage, kompensiert. Daß das Materielle das 'mindere' ist, erscheint so fürwahr als ein charakte­ristischer Zug der deutschen Ideologie. Die Trennung der konfuzianistischen Intellektuellen von der Handarbeit (und mehr noch ihre Verach­tung der Handarbeit), die sexualfeindliche Prüderie und Verlogenheit des Konfuzianismus, die Abkehr von der Sinnlichkeit des wirklichen, alltäglichen Lebens usw. mögen dem Kulturverständnis der vor­modernen chinesischen ‘Eliten’ eine ähnliche - das Materielle, Äußerliche und Objektive auf Positionen minderen Werts delegie­rende - Tendenz einbeschrieben haben wie dies in der deutschen Debatte um Kultur und Zivili­sation der Fall war. 

Allgemein gesagt haben die Chinesen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts kaum etwas von dem westlichen Kultur- und Zivilisationsbegriff als solchem erfahren. Nicht wenige von jenen wichtigen zweisprachigen Lexika und Wörterbüchern, die von den in China lebenden Europäern seinerzeit verfaßt oder herausgegeben wurden, führen das Stichwort 'Kultur' oder 'Zivilisation' überhaupt nicht; so z. B. A Dictionary of the Chinese Language (Part the Third,English and Chinese) von Robert Morrison (1815/22);[39]An English and Chinese Vocabulary von S. Wells Williams (1844);[40]Dictionnaire Français-Latin-Chinois von Paul Perny (1869).[41]A Vocabulary and Hand-Book of the Chinese Language (Part FirstEnglish and Chinesevon Justus Doolittle (1872)[42] enthält nicht das Stichwort 'Civilization'; unter dem Stichwort 'Culture' heißt es: literary; act of self. Das English and Chinese Dictionary von W. Lobscheid (1866/69), das allem Anschein nach die Definitionen und Übersetzungen von 'Kultur' und 'Zivilisation' in den zweisprachigen Wörterbüchern aus der zweiten Hälfte des 19. Jhs. beeinflußt hat, behandelt 'Civilization' als "the act of civilizing" und "the state of being civilized". Unter 'Culture' registriert Lobscheid "the culture of rice; the culture of virtue; the culture of right principles; the culture of letters".[43]Wie in den meisten europäischen Lexika und Wörterbüchern auch des 19. Jhs. wird hier die landwirtschaftliche Bedeutung an erster Stelle genannt. Im wesentlichen ist es also noch der frühneuzeitliche Kulturbegriff der Kultivierung [des Bodens, also Landbau] sowie der Ausbildung von Fähigkeiten des Individuums. Der kultivierte Zustand oder gar die Kulturprodukte werden nicht angesprochen. 

Nicht uninteressant ist die Definition von 'civilization': Im Englischen setzte sich 1775 eine neue Form der Definition von 'civilization' im Wörterbuch von Ash durch: the state of being civilized, the act of civilizing,[44] wonach der Zustand vor den Vorgang gestellt wurde. Offensichtlich stammt Lobscheid's Stichwort - wortwörtlich - von Ash, jedoch mit einer großen Änderung der Reihenfolge: die einmal umgestellte Komponenten werden noch einmal zurückgestellt. Was in diesen Wörterbüchern (wohl auch für die damalige Leserschaft) auffällt, ist eine Art Unschlüssigkeit der chinesischen Übersetzung beider Begriffe, die wegen mangelnder normativer und deskriptiver Aspekte das Verständnis eines so wichtigen Geschichts- und Fortschrittsbegriffs und damit eine entsprechende Rezeption beeinträchtigt. Übrigens kann vermutet werden, daß bis zum Anfang des 20. Jhs. viele zweisprachige Wörterbücher in China in bezug auf 'Zivilisation' und 'Kultur' wahrscheinlich Lobscheids Version als Vorbild genommen haben, wie z. B. An English and Chinese Standard Dictionary (1910), hier jedoch mit einem deutlichen Hinweis auf den wichtigsten Gegensatz zu 'Zivilisation' und 'Kultur'; dies ist 'Barbarei' und 'Wildheit': "from barbarism to civility", "the cultivation of savages".[45] Meistens - selbst in den ersten Jahrzehnten des 20. Jhs. - beschränken sich viele zweisprachige Wörterbücher nur auf Übersetzungen, die alles andere als einheitlich sind.[46] Daß die Lexika und Wörterbücher weit hinter der Rezeption des westlichen Kultur- und Zivilisationsbegriffs in China zurückbleiben, zeigen die folgenden Beispiele: In Xin Erya (1903) [47] und Putong baike xin da cidian (1911)[48], die ziemlich viele westliche Begriffe anführen, fehlen die Stichwörter 'Kultur' und 'Zivilisation' überhaupt. Sogar Baike Minghui[49] aus dem Jahr 1931 kennt 'culture' nicht, übersetzt 'civilization' als "wenhua" - das heutige chinesische Pendant zum Wort 'culture'.

In Wirklichkeit hat man bereits in Dong Xi Yang Kao Meiyue Tongjizhuan/Eastern Western Monthly Magazine (1833-1838), der ersten Zeitschrift in der modernen chinesischen Geschichte, mit 'wenming' den westlichen Zivilisationsbegriff übersetzt, wie etwa in dem Text "Falanxiguo zhilüe" [Kurze Aufzeichnung Frankreichs]: "Die Gründung des Staates gewährt den kommenden Generationen Glück. Die Verbreitung der 'wenming ' [Zivilisation] läßt das Christentum weiter glänzen."[50] Der zweite Satz erscheint fünf Mal in der ganzen Zeitschrift,[51] wobei 'wenming' immer nur zusammen mit "Glanz des Christentums" benutzt wird. Die Verbindung zwischen 'Zivilisation' und 'Christentum' läßt uns ohne großes Problem feststellen, daß hier der alte chinesische Begriff 'wenming' als Äquivalenz und Übersetzung der Kategorie 'Zivilisation' herangezogen wurde. Noch vor der Popularisierung eines aufklärerischen Kultur- und Zivilisationsbegriffs in Europa war schon in der christlichen Anschauung die westliche Zivilisation in letzter Instanz als eine christliche, und das Christentum als Kern der westlichen Zivilisation betrachtet worden. Als dann seit Ende des 18.Jh. der moderne, säkularisierte Zivilisationsbegriff sich im Westen weithin durchzusetzen begann, wurde dann auch – und zwar bereits bei Rousseau - der mit 'Zivilisation' verbundene Fortschrittsoptimismus infragegestellt. Vor allem die einsetzende Industrialisierung ließ eine Reihe von Zeitgenossen von den Schattenseiten des Fortschritts sprechen, nicht zuletzt in politisch-sozialer und ökologischer Hinsicht. Die aufkeimende Kritik an der sich selbst glorifizierenden modernen westlichen Zivilisation (oder Kultur) geschah gewiß im Namen einer vorgestellten, wahreren oder humaneren Kultur: Nicht nur romantische Skeptiker, die in den vermeintlichen Naturmenschen des Südens die wahreren Menschen sehen, kommen jetzt zu Wort, sondern auch Apologeten der katholischen Kirche wie Lammenais oder Frédéric Le Play. Gerade bei einigen der katholischen Autoren des 19. Jh. bemerkt man die Tendenz, den von den Fortschrittseuphorikern als zentrale Kategorie verstandenen Begriff der 'civilisation’ im Sinne eines diskursiven Strategie des 'den Spieß Umkehrens' für ihre Position in Beschlag zu nehmen oder – wie heute zu sagen pflegt - zu 'besetzen'. Seither figurieren in katholischen (und diesen benachbarten) Diskursen [– bis hin zu der kürzlichen, diesbezüglichen Erklärung des italienischen Ministerpräsidenten –] immer wieder Wendungen wie 'christliche Zivilisation' ('civilisation chrétienne' ) und 'abendländische Kultur'.[52] Vor diesem, im Westen bis heute in unterschiedlicher Form nachwirkenden, historischen Hintergrund ist die Verbindung des Begriffs 'Zivilisation' mit der Vorstellung 'christliche (bzw. katholische) Religion und Kirche' in Dong Xi Yang Kao – einer Zeitschrift, die von den in China lebenden ausländischen Missionaren herausgegeben wurde, wobei die veröffentlichten Beiträge in der Hauptsache auch von Missionaren verfaßt waren – eine selbstverständliche Erscheinung. Gerade weil man immer wieder den Zusammenhang zwischen dem Verdienst der Kirche und der 'Zivilisation' hervorhebt, kann "wenming" in dieser Zeitschrift als eine der ersten chinesischen Übersetzungen des Begriffs der 'Zivilisation' (wenn nicht die erste) gelten. Ohne Zweifel hat man in Dong Xi Yang Kao realiter die christliche Zivilisation verbreitet, während die Menschen des 19. Jahrhunderts im Westen im allgemeinen den Ablauf der Geschichte neu und losgelöst von der theologischen Tradition denken und mit 'Zivilisation' und 'Kultur' alle Lebensbereiche, materielle wie geistige, zu erfassen suchen. Dong Xi Yang Kao hat, obgleich sie den Chinesen nur eine beschränkte Zivilisationsvorstellung zugänglich gemacht hat, eine ganze Reihe von Aspekten westlichen Wissens vorgestellt, und die innovative Verwendung von "wenming" als Übersetzung von 'civilisation' kann an sich schon als ein Meilenstein gelten. Vielleicht gerade weil der Wenming-Begriff in Dong Xi Yang Kao einen beschränkten Sinn der Kategorie der Zivilisation implizierte, konnten die Chinesen wohl noch nicht ganz die neue Bedeutung dieses alten chinesischen Wortes verstehen, noch weniger wohl die mit diesem Begriff verknüpften geschichtsphilosophischen Konstruktionen. Mit anderen Worten: Wir können, weil in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. die traditionellen chinesischen Begriffe ihre Bedeutung nur geringfügig verändern, nicht definitiv die Beziehung zwischen der Verwendung von 'wenming' in Dong Xi Yang Kao und dem späteren, modernen Gebrauch von 'wenming' im China des ausgehenden 19. Jhs. feststellen.

5. China: nur half-civilized

Wie bei Entstehung und Etablierung des modernen Kultur- und Zivilisationsbegriffs zuvor in Europa wird auch in China der Gegenstandsbereich als solcher natürlich nicht erst mit dem modernen Begriff bewußt. Der Kontext der einschlägigen Texte in der Zeit des Reformdiskurses verdeutlicht, daß man, wenn es um die Vorstellung von 'Kultur' oder auch 'Zivilisa­tion' im mehr oder weniger modernen Sinne ging, sich in der Regel mit traditionellen Begriffe wie 'wenwu', 'wenjiao', 'jiaohua', 'zhengjiao', 'xianghua', 'kaiming' usw. behalf. Mag sein, daß dies heißt, daß eine bewußte Rezeption des modernen westlichen Kultur- und Zivilisationsbegriffs in China ziemlich spät erfolgte. Einer der ersten, die meines Wissens dem westlichen Zivilisationsbegriff bewußt Aufmerksamkeit schenkten, ist bezeichnenderweise Guo Song­tao, der als erster Gesandter Chinas 1876 den Westen erkundete. Er schrieb - offensichtlich tief beeindruckt von seinen Auslands­erfahrungen - in seinem Tagebuch (unter dem Datum des 5. März 1878) folgendes: "Im Westen hält man die aufgeklärten und fortschrittlichen Länder für civilized, und meint, zivilisierte Länder fänden sich in Europa. China, die Türkei und Persien seien nur half-civilized. [...] Und Afrika sei barbarian, d. h. ohne Zivilisation. Vor den drei Dynastien Xia, Shang und Zhou kannte allein China eine Zivilisation [...], die aber nach der Han-Zeit allmählich zugrunde ging. Es waren dann die Länder in Europa, die sich immer weiter entwickelten und von daher sich behaupten können. Sie betrachten China etwa so, wie die Chinesen in der Blütezeit der drei Dynastien die Barbaren betrachte­ten. Wie tragisch, daß die chinesischen Gelehrten und Beamten bis heute kaum etwas davon wissen."[53]

Eine Schlußfolgerung daraus kann mindestens in drei Punkten zusammengefaßt werden: Guo Songtao hat den modernen westlichen Zivilisationsbegriff schon als einen umfassenden Begriff referiert und dabei auf den klaren Gegensatz der Zivilisation verwiesen: Barbarei. In Europa beanspruchte Frankreich fast selbstverständlich die Führungsstellung in der Spitzengruppe der Länder und Territorien der Zivilisation. Aber der französische Nationalismus war in bezug auf die Zivilisation nicht exklusiv, sondern er blieb der gemeineuropäischen Komponente verbunden. Die Differenz zwischen 'peuples civilisés' und 'peuples barbares' wurde ja zu einem (europäischen) Stereotyp. Bewußt oder unbewußt hat Guo Songtao hier jene seit der zweiten Hälfte des 18. Jhs. in Europa populäre Vorstellung von dem 'Grad der Kultur' und der 'Stufe der Kultur' tangiert - zwei Wendungen, die seit den frühesten Schriften Herders zentral sind.[54] Zweitens hat Guo Songtao den sogenannten Zeitgeist Europas sichtbar gemacht; d.h., er hat Kultur und Zivilisation als moderne Bewegungsbegriffe, die insbesondere mit 'Geschichte' und 'Fortschritt' verbunden sind, veranschaulicht. Als solche sind sie primär europäische (und allenfalls noch nordamerikanische) Besonderheiten. Drittens scheint der Eurozentrismus den chinesischen Gesandten nicht ein bißchen gestört zu haben. Im Gegenteil: Er gehört zu denen, welche die für uns Heutige, sicher aber auch für große Teile der damaligen Leser­schaft überraschende gedankliche Verknüpfung von weit zurückliegender klassischer Blütezeit Chinas und (westlicher) Moderne - mit der Polarisierung von Yi und Xia - im Kontext eines Reform-Begehrens zustandebringen. In gewisser Hinsicht spiegeln sich gerade hier die wahren Gefühle nicht weniger Reformorientierter wider. Was das klassische China in seiner Blütezeit laut Guo Songtao mit dem Westen des 19. Jahrhunderts gemeinsam hat, ist die für seine Epoche erstaunliche Modernität; jenes China ist auf der Höhe der Zeit. Diese Einsicht, welche den Begriff 'Zivilisation' auf beide Phänomene applizierbar, und damit eine Charakterisierung des klassi­schen China auf den zeitgenössischen Westen übertragbar machte (während man seitens solcher Reformer die traditionalistische Kultur des aktuellen China im 19. Jh. ausschloß), mochte schockierend radikal sein. Später (1922) hat Liang Qichao über das Schicksal des Buches Shi Xi Jicheng [Reisebericht eines Gesandten nach Westen] von Guo Songtao - eine Sammlung seiner Tagebucheintragungen über die 50tägige Reise von Shanghai nach London - folgendes aufgezeichnet: "1876 ging der Gesandte Guo Songtao nach England und hat einen Reisebericht geschrieben, in dem es eine [die oben zitierte] Passage gibt - etwa darüber, daß man heute die Yi-Barbaren nicht mehr so betrachten kann wie früher; sie hätten nämlich auch eine 2000jährige Zivilisation. Oh! Das ist ja die Höhe! Das Buch hat in Peking unter den Literati und Beamten im Hof allgemeine Empörung ausgelöst und wurde so geächtet, daß schließlich auf kaiserlichen Erlaß die Druckplatte vernichtet wurde."[55]

Lewis H. Morgan schreibt 1878 in Ancient Society: "It can now be asserted upon convincing evidence that savagery preceded barbarism in all the tribes of mankind, as barbarism is known to have preceded civilisation. The history of the human race is one in source, one in experience, and one in progress."[56]Wenn die Geschichte ein Prozeß fortschreitender Zivilisierung ist, dann müssen sich Spuren der Zivilisation schon am Beginn der Geschichte und selbstverständlich in der ganzen Entwicklung der Menschheit finden, wobei jedem Volk der Weg in die Zivilisation offen steht. Im China des 19. Jhs. wird aber Kultur und Zivilisation nicht selten - bewußt oder unbewußt - für eine historische 'Episode' erachtet, wenn auch diese 'Episode' ziemlich lang gedauert hat. Anders ausgedrückt: Man betrachtet die Zivilisation weniger als einen Geschichtsprozeß und sieht oft in einer bestimmten Geschichtsperiode den Anfang oder auch das Ende der Zivilisation. In vielen Schriften aus den letzten Jahrzehnten des 19. Jhs. taucht der Begriff 'wenming' zunächst fast nur dort auf, wo gerade von der 'Goldenen Zeit' Chinas die Rede war, die schon längst der Vergangenheit angehörte. "In der wilden Vor­geschichte", so schrieb Xue Fucheng, "gab es keinen Unterschied zwischen Menschen und anderen Dingen. [...] Aus dem öden Zustand der Urzeit erwuchs während der Tangyu-Zeit, die Jahrtausende andauerte, 'wenming' [Zivilisation]. Diese Zivilisation unter dem Himmel und damit der reine Frieden währte fort unter der Xia-Dynastie [20. bis 16. Jh. v. Chr.], der Shang-Dynastie [16. bis 11. Jh. v. Chr.] und der Zhou-Dynastie [11. Jh. bis 221 v. Chr.], bis Qin Shihuangdi, der erste Kaiser, die anderen sechs Staaten unterwarf [...] und willkürlich das Gesetz der Urkaiser übertrat. [...] So setzte er dem feudalen System (fengjian) ein Ende und parzellierte das Reich in Präfekturen (jun) und Kreise (xian)."[57] - Für den Autor wurde damit 'wenming' [also: die Zivilisation] unterbrochen. Ein derartiger Gedankengang war bei traditionalistischen, aber auch widersprüchlich dem Reformismus verpflichteten Autoren um jene Zeit keine Seltenheit.[58] Es handelt sich im hier zitierten Diskurs offenkundig bei 'wenming' um einen nicht gängigen, beinahe antiquierten, jedenfalls auf einen nicht-zeitgenössischen Inhalt abzielenden Begriff. Benutzt man nun aber im ausgehenden 19. Jh. im Diskurs über das europäische und nordamerikanische Fortschrittsmodell den Wenming-Begriff, so ist die diskursive Entfaltung des Begriffsinhalts von 'wenming' offensichtlich beeinflußt von dem modernen westlichen Zivilisationsbegriff, der Neues aus Altem entstehen läßt. Das heißt: Mit dem Wenming-Begriff, der sich in der Folgezeit allgemeiner Beliebtheit erfreut, wird eher die europäische Zivilisation assoziiert; und der alte chinesische Wenming-Begriff hat gerade in diesem Moment neue Akzente, eine neue Perspektive und neue Konnotationen erhalten.

Die damals gängigsten, oben schon angeführten Kultur- und Zivilisationsbegriffe, 'wenwu', 'wenjiao' etc. bezeichneten dagegen lange Zeit (1.) die vor allem von den Konservativen geprägte, zugleich jedoch auch (2.) eine von den um kulturelle Erneuerung ringenden Reformern beanspruchte Kultur Chinas. Und hier und da bereits auch (3.) die im jüngsten Kontakt mit dem Westen erfahrene 'Yi'-Kultur und -Zivilisation. Da aber die an diese Begriffe geknüpfte Vor­stellung von Zivilisation und Kultur nach wie vor bei vielen Lesern beinahe automa­tisch den Begriffsinhalt 'traditionelle, konfuzianistisch geprägte, chinesische Kultur' nahelegte, bemühte man sich auf Seiten der Reformkräfte zusehends um begriffliche Differenzierung und ging so dazu über, einen anderen, nun mit neuem Inhalt versehe­nen Begriff für die 'Yi'-Zivilisation wie auch für eine angestrebte moderne chinesische Kultur und Zivilisation zu bevorzugen. Es ist dies der alte, aber im Großen und Ganzen 'längst aus der Mode gekommene', nun gleichsam reaktivierte, diskursiv umgepolte Begriff 'wenming', gebildet aus: 'wen' = Schrift; Bildung; Kultur und 'ming' = klar, hell, lichtvoll. Die etymologische Verwandtschaft zu den europäischen Begriffen 'enlightenment' bzw. 'Aufklärung' dürfte für die nunmehrige Bevorzugung dieses mit positivem Wertcharakter zusammenhängenden Begriffs ausschlaggebend gewesen sein. Insofern ist 'wenming' ein Begriff, der zur Abgrenzung von den kulturkonservati­ven Kräften dient. Clarté (Klarheit) und enlightenment (Aufklärung) als im Westen rezipierte Vorbilder neuer Geisteshaltungen oder Bewußtseinsformen stehen nun im Gegensatz zu Unwissenheit und Aber­glauben, die mit der obsolet gewordenen Tradi­tion, dem überlebten Weltbild des alten China in Zusammenhang gebracht werden. In diesem ideellen Kontext schrieb nicht nur der erste chinesische Gesandte im Westen die folgenden Worte: "China hat seine Zivilisation verloren - schon vor mehr als 2000 Jahren!"[59] Noch schlimmer: Wir sehen in der zeitgenössischen Zivilisationsdebatte noch eine These, die dem Leser eine schreckliche Entwicklungsgeschichte Chinas vor Augen führt - ein Szenarium, das der auf der Evolutionstheorie basierenden Geschichtsvorstellung eines Lewis H. Morgans diametral entgegengesetzt erscheint: "Die Zivilisiertheit und Kultiviertheit der drei Dynastien Xia, Shang und Zhou ist in den vergangenen 2000 Jahren zugrundegegangen bis hin zur gegenwärtigen Barbarei. Noch 2000 Jahre weiter wird die Barbarei von heute die Menschen zu Affen, Hunden, Schweinen, Fröschen usw. umwandeln, bis alle Lebewesen vernichtet sind. Was dann übrig bleibt, ist die öde Wüste."[60] Es handelt sich hier bei Tan Sitong natürlich nicht etwa um eine Art Kulturpessimismus, sondern um eine radikale Polemik, die in ihrer Groteskheit die Chinesen aus dem 'Winterschlaf' schrecken sollte.

Um so mehr wandten sich dann in China zahlreiche Reformer - aus dem Bedürfnis nach einem 'neuen' Ausdruck und in bewußter Abkehr von der Tradition - einem die materielle wie die geistige Kultur umfassenden Kultur- bzw. Zivilisationsbegriff zu. In der nun geläufigen, unter dem Einfluß des westlichen 'kulturellen' Ansturms sich durchsetzenden Bedeutung meint 'wenming' Zivilisation im Sinne moderner westlicher geistiger und materieller Kultur - grenzt sich also von einem gleichsam überholten, traditionellen, konfuziani­stisch geprägten Kulturverständnis ab. Die Reformkräfte entdecken die kulturelle Bedeutung der Emanzipation des von aller hohen Kultur bislang aus­geschlossenen Volkes. Sie entdecken den Alltag und seine kulturelle Bedeutung, und so auch jene Aspekte der Kultur, die sich stützen auf nützliche Verfahren, die Technik, usw., wie sie überhaupt der Diesseitigkeit und nicht zuletzt einer lebensbejahenden Sinnlichkeit einen kulturellen Wert abgewinnen. Sie entdecken damit auch die fortschrittlichen Momente des westlichen Zivilisationsbegriffs, die sie entsprechend den eigenen Bedürfnissen adaptieren, so etwa Liang Qichao: "Seit hundert Jahren haben die Völker [des Westens] ihre eigene Stimme - daher ein Bild des Blühens und Gedeihens. Dies hat China erst heute kennengelernt und begriffen. Innerhalb von ein paar Jahrzehnten wird China so stark wie der Westen sein; innerhalb eines Jahrhunderts wird China zur Zivilisation gehören. [...] Die Erde ist bereits in das Schicksal der Zivilisierung geraten. Es tut uns not. Es braucht Veränderung."[61] Oder: "Jeder sagt: wer die Zeichen der Zeit versteht, ist ein großer Mann. Wer sagt denn nicht: im Westen sind Länder der Zivilisation. Wollen wir unser Land voran­bringen, damit es auf gleicher Stufe mit dem Westen steht, muß vor allem unsere Zivilisation voranschreiten, damit unsere Zivilisation und die westliche ebenbürtig sind."[62] Das Bemerkenswerte daran ist nicht, daß die traditionelle chinesi­sche Kultur und Zivilisation einer fundamentalen Kritik unterzogen und als überholt verworfen werden; es ist auch nicht die Anerkennung der Fortschrittlichkeit der west­lichen Zivili­sation, auf deren Impulse man nicht verzichten kann; es ist vielmehr das formulierte Ziel: nicht eine westliche Kultur zu übernehmen, zu kopieren, sondern 'unsere Kultur' - im engen Kontakt und Austausch mit der des Westens - zu ent­wickeln, damit sie der westlichen 'ebenbürtig' sein wird. Interessant an dem innovativen Aufgreifen und Umdeuten des klassischen Wenming-Begriffs ist wohl nicht nur, daß ein sehr alter Begriff höchst modern wird, sondern daß man damit zugleich suggeriert, es seien die Moder­nen, die Modernisierer, welche das wahre Erbe der Blütezeit des klassischen China aufgreifen und fortsetzen.

Es ist hier zu betonen, daß der sich durchsetzende Wenming-Begriff - ebenso wie übrigens der etwas später populär werdende Wenhua-Begriff - sich auf das Feld des Kulturellen insgesamt beziehen. Man kann also in der Regel durchaus nicht (etwa im Sinne gewis­ser deutscher Autoren) den Wenhua-Begriff gegen den Wenming-Begriff ausspielen, so als repräsentiere 'wenhua' eine elitäre Vorstellung von 'geistiger Kultur', der das Innere und das Moralische zugesprochen werde, die sich damit abhebe von 'wenming' als lediglich angelsächsisch oder französisch beeinflußter konzeptioneller Widerspiegelung einer 'bloß materiel­len Zivilisation'. Als Zheng Guanying 1900 die neuzeitliche Zivilisation Englands lobpries, meinte er selbstverständlich beides - geistige Kultur im engeren Sinne und die sozio­kulturellen, 'zivilisatorischen' Rahmenbedingungen, Kultur also im weiteren Sinne jener Produktionsbedingungen, welche ihre Reproduktion und Erneue­rung ermög­lichen.[63] Bei Liang Qichao sieht man allerdings, wo er den Wenming-Begriff verwendet, eine pointierte Akzentverschiebung im Sinne der Betonung der geistigen Seite der Zivilisa­tion. Die jüngsten bitteren Erfahrungen Chinas vor Augen, schrieb Liang Qichao 1899 folgendes: "Es gibt eine materielle [xingzhi] Zivilisation und eine geistige [jingshen]. Es ist einfach, nach der materiellen Zivilisation zu streben; es ist schwierig, die Stufe der geistigen Zivilisation zu erreichen. Wenn der Geist da ist, bildet sich die materielle Form von selbst. Wenn aber der Geist fehlt, kann die Form an nichts haften. Deshalb ist die wahre Zivilisation nur die geistige. [...] Auf dem Boden entstehen Gebäude aus Stein, über dem Fluß eiserne Brücken; aufs offene Meer fahren große Dampfer hinaus, Kriegsschiffe mit allen finanziellen Kräften gekauft. Und zur Nachahmung west­licher Techniken ist das Eigentum des Volks ausgeschöpft - Kann man dies alles als Zivilisation betrachten? Auf keinen Fall. Warum? Es handelt sich hier ja lediglich um materielle Sachen, nicht um Geist. Fängt man beim Streben nach Zivilisation mit materiellen Sachen an, gerät man so nur in eine Sackgasse, [...] man erreicht nie das Ziel und mithin sind alle bisherigen Anstrengungen ver­gebens. Beginnt man beim Streben nach Zivilisation jedoch mit dem Geist, so verhält es sich wie mit einem großen Strom - entsprungen aus einer klaren Quelle -, der tausend Meilen ungehindert dahin­strömt: unaufhaltsam bis zum Ziel."[64]

Ab­gegrenzt wird - im Zuge der neuen Verwendung von 'wenming' als der Kategorie, die um 1900 für die Kulturdebatte und Debatte über zivilisatorischen Fort­schritt entschei­dende Bedeutung erhält - die Idee eines offensichtlich überholten, sich jedem Fort­schritt verweigernden Kulturverständnisses, welches starr am Erbe des alten China festhalten will, von der dazu antithetischen, innovativen, dem Kulturaustausch und damit der Auseinandersetzung mit dem zivilisatori­schen Vorsprung des 'Westens' geschuldeten Kultur. Es ist eben diese neue Kultur, für die man jetzt den Begriff 'wenming' wählt. Er bezeichnet ein allgemeines Zivilisiert-Sein: geistig wie materiell; technisch wie in sozialer Hinsicht. Chen Duxiu (1879-1942) versteht z. B. unter der neuzeitlichen Zivilisation a) Menschenrechte, b) Evolutionis­mus und c) Sozialismus. Für ihn ist übrigens die 'neuzeitliche Zivilisation' die europäi­sche par excellence,[65] und damit steht er nicht allein. Indem Intellektuelle wie Chen Duxiu den weitgehend paradigmatischen Charakter dieser Kultur in diesem historischen Moment akzeptieren, haben sie sich auch ein Stück weit dem europäischen Zeitgeist angepaßt: reale Errungenschaften auf dem Gebiet der Kultur und Zivilisation wurden zum Maßstab der europäischen Führungsstellung in der Welt. Diese führende Rolle wurde – bei aller Kritik am Westen, an seiner kolonialistischen Praxis sowie seinen 'ungleichenVerträgen' und zeitgleich mit der Rezeption der gesellschaftskritischen Theorien des Westens – in der Regel als nicht zu übersehendes Faktum anerkannt, wie es dann auch bei Lu Xun heißt: "[...] Aus dieser Sicht hat die europäische Zivilisation des 19. Jahrhunderts die des Altertums übertroffen und die des Fernen Ostens in den Schatten gestellt. Es bedarf keiner genaueren Untersuchung, um dies zu erkennen."[66]

6. Sich dem Guten zuwenden

Als Chen Duxiu, einer der linken Intellektuellen (Gründer der chinesischen KP) und seine Zeitgenossen die im Vergleich zur chinesischen Gesellschaft ihrer Zeit gegebene Progressivität der europäischen Zivilisation anerkannten, betrachteten sie offenbar die Binnendifferenzierung der Zivilisation im Westen als sekundär und hielten wenig bis gar nichts von der Zivilisationskritik pessimistisch-konservativer Autoren wie Spengler. Ihre Position war also vergleichbar der europäischer Marxisten. Wie wir wissen, ist für Marx die Zivilisation (wie auch die Kultur) im Grunde genommen eine positive, nur leider vom Kapitalismus pervertierte Größe. Engels wirft 1844 den Herrschenden vor: "Ihr habt die Enden der Erde zivilisiert, um neues Terrain für die Entfaltung eurer niedrigen Habsucht zu gewinnen."[67] Daß das Moment der Perversion die Zivilisation selbst infragestellen konnte, schien diesen Autoren nicht abwegig. So fragt Marx 1867 rhetorisch nach dem "Vorzug dieser kapitalistischen Zivilisation mit ihrem Elend und ihrer Degradation der Massen vor der Barbarei".[68] Die Auffassung von Marx und Engels ist nur eine der vielen, je nach sozialer Lage, Parteizugehörigkeit, Religion usw. aufzugliedernden diskursiven Positionen in Europa. Lange Zeit konnte oder wollte man in China nicht die Kehrseite der Medaille sehen oder hielt die Schattenseiten der westlichen Zivilisation für eine sekundäre Größe, verglichen mit dem produktiven Potential des westlichen Modernismus. Verglich man die westliche Moderne mit dem China, das man tagtäglich in seiner 'Rückständigkeit' erlebte, so ergab man sich schnell einem 'allgemeinen' Schuldgefühl: die wahrgenommene 'Rückständigkeit' und Ohnmacht erschien vielen als Konsequenz eigener Schuld, Schuld der eigenen Gruppe und Nation, nicht zuletzt Schuld der Vorfahren. So kann man im Reformdiskurs (im Kontext der Demütigung Chinas) immer wieder eine nicht unbedingt ausgesprochene aber tatsächlich vorhandene Stimme wie "Das geschieht dir recht" wahrnehmen. "So degeneriert sind die Menschen eines Landes - geistig und materiell. Wenn auch die anderen keine Strafexpedition gegen uns unter­nähmen - schämt man sich nicht, hat man überhaupt noch das Recht, auf der Erde zu existieren?"[69] Für einen Autor wie Chen Duxiu wurden Sünde und Schande fast zur einzigen Signatur der ganzen chinesischen Geschichte, und was den Zeitgenossen nottat, war, so hieß es (nicht nur) bei ihm: "die uralten Sünden bekennen, sich vom Übel abkehren und dem Guten zuwenden".[70]

Angesichts der ungelösten sozialen Fragen und vor allem der nationalen Krise scheint das Konzept der radikal erneuerten – ohne die lebendige Auseinandersetzung mit den avanciertesten Positionen und Errungenschaften der zeitgenössischen, westlichen Kultur aber nicht zu verwirklichenden – 'wenming' am vielversprechendsten, um das Reform- und Modernisierungsprojekt durchzusetzen. Das von den Kritikern des traditionellen, machtlosen China jetzt immer entschiedener erstrebte moderne Niveau bezeichnet von nun an, soviel wird deutlich, für's erste der Wenming-Begriff und damit eine Kategorie, die vor allem in der 4.-Mai-Bewegung zum entscheidenden Maßstab und zum Inbegriff der neuen Ziele der oppositionellen Intellektuellen wird. Bei heftiger Kritik an der chine­sischen Vergangenheit und bei radikaler Abrechnung mit der Tradition, ja mit der gan­zen überlieferten Kultur schlechthin, blickten viele Kritiker, um nicht etwa urplötzlich in ein Vakuum zu stürzen, oder die nötige Weltorientierung zu verlieren, vor allem nach Westen, das heißt, nach anderen Weltbildern und Kulturmodellen, nach 'der Zivilisation'. Dies setzt freilich eine Identitätskrise voraus und gilt daher als eine Art neuvollzogener Identifikation, denn die 4.-Mai-Bewegung widerspiegelt ohne weiteres eine schwere Krise der kulturellen Identität im Bewußtsein der damaligen chinesischen Intellektuel­len.[71] Allerdings vermag man dies auch umgekehrt darzustellen: Um das Alte bzw. das mit ihm in eins gesetzte Wertsystem des Konfuzianismus wegzufegen, brauchte man eine starke Opposition, suchte man nach neuer Wertordnung, und im Anbetracht der politi­schen - in hohem Grade auch intellektuellen - Lähmung Chinas schienen bestimmte, im Westen entdeckte Bewertungsmuster und Werte wie Demokratie, Freiheit, Gleichheit und Wissenschaftlichkeit die richtigen Waffen zur Zerstörung der einheimischen alten Werte und zur Überwindung des 'Mittelalters' (d. h. der überhol­ten Traditionsbestände) zu sein. Brauchbare Kategorie des zeitgenössischen westlichen Diskurses werden also angeeignet, um im eigenen soziokulturellen Kontext als Instrumente im Kampf mit den sozialen Gegnern zu dienen und zugleich zur Modernisierung der eigenen Kultur im Sinne der Bedürfnisse der chinesischen Bevölkerung beizutragen. Eine Aussage von Hu Shi (1891-1962), daß im zeitgenössischen China eine allgemeine Unzufriedenheit mit dem vorhandenen Gedan­kengut herrsche und neue Erkenntnisse bezüglich der westlichen geistigen Zivilisation die Oberhand gewonnen hätten,[72] zeigt deutlich die Veränderung des Koordinatensystems an und deutet hin auf einen Paradigmenwechsel. In dieser Zeit der 'Umwertung aller Werte' ist die Ansicht von Luo Jialun (1897-1969) symptomatisch für eine spezifische, an die von Norbert Elias kritisierte 'deutsche' Differenzierung von Kultur und Zivilisation gemahnende Rezeption eines bestimmten westlichen Diskursmusters : "In dem gerade vergan­genen Zeitalter glaubten die Chinesen noch, daß der Westen zwar hinsichtlich der materiellen Zivilisa­tion sowie der Organisation des Staates und Rechtswesens China überlegen sei, in bezug auf die geistige Zivilisation sowie in Fragen der sozialen Ethik sich aber immer noch nicht mit China messen könne. Erst in unserer Zeit wurde uns schlagartig klar, daß der Westen nicht nur eine Zivilisation nachweisen kann, sondern auch Kultur. Nicht nur in der Politik, sondern auch in der Gesellschaft, nicht nur im Rechtswesen, sondern auch in der Ethik ist der Westen nicht schlechter als China. Im Gegenteil: er ist besser, gerechter und menschlicher."[73]

Gegenüber derartigen Empfindungen hat Zhang Binglin (1869-1936) ganz früh schon seine Abneigung geäußert und meint, daß die sogenannte Polarität von Zivilisation und Barbarei nicht unbedingt eine allgemeine Gültigkeit hat.[74] Er tritt sogar ganz extrem für das Abschaffen des Modebegriffs 'wenming' ein.[75] Diese Anschauung entsteht gerade in einer Zeit, wo – wie dies Lu Xun in seinem Artikel "Über falsche Tendenzen in der Kultur" kritisch dargestellt hat – nach Auffassung gewisser Autoren nicht ausgesprochen werden sollte, was nicht mit westlichen Grundsätzen über­einstimmt. In der Tat vertreten damals ganz wenige Leute die Auffassung von Zhang Bingling, die ja als unzeitgemäß erscheint. Betrachtet man aber Luo Jialun's Enthusiasmus für westliche Kultur und Zivilisation bzw. den oben zitierten pathetischen Ausdruck dieses Enthusiasmus aus dem Jahr 1920, muß man ebenfalls feststellen, daß er auch nicht so sehr mit der Zeit geht, weil sich der moderne Kultur- und Zivilisationsbegriff an seinem Entstehungsort in Europa gerade in der Krise befindet. Im Zuge der zunehmenden nationalen Widersprüche nach 1871 und besonders seit der Jahrhundertwende wurden Begriffe wie Zivilisation und Kultur im Westen in bislang unvorstellbarer Weise von den polemisierenden nationalistischen Ideologen instrumentalisiert. [Fußnote; Die polemischen Diskurse dieser Zeit, die etwa deutsches Wesen dem französischen entgegensetzen und umgekehrt, hat Hugo Dyserinck in zahlreichen Studien in bester aufklärerisch-humanistischer Manier seziert und analysiert. Gerade in den deutschen Beiträgen aus nationalistischer Feder I stand 'Kultur' deutlich über 'Zivilisation'.] Diese Tendenz setzte sich im Weltkrieg (1914-18) und in den konservativen Lagern auch nach 1918 unvermindert fort.

Allerdings war das europäische Selbstbewusstsein als Folge der Barbarei des Weltkriegs – gelinde ausgedrückt – angeknackst. Kritische, aber auch traditionalistische Autoren sprechen offen von einer Krise der (europäischen) Kultur. Autoren wie Ludwig Renn, Erich-Maria Remarque, Henri Barbusse, aber auch Auden, Dos Passos, Hemingway zeichnen ein Bild der Leiden und Greuel des Weltkriegs. Dadaisten und Surrealisten nehmen sarkastisch die angeblich überlegene europäische Kultur und ihre Eliten auf’s Korn. Ein poetischer Irrationalist wie Artaud sucht das Heil in einem imaginierten Tibet, Picasso ist inspiriert von der Kreativität afrikanischer Künstler. Die Zweifel an den doch ach so unbezweifelbaren Segnungen des Fortschritts westlich-moderner Provenienz häufen sich. 

In gewissen, vor allem wohl konservativen Kreisen finden damals kulturpessimistische Autoren – wieder einmal (und vielleicht mehr als je zuvor) – großen Anklang. Es ist keineswegs sicher, ob die jetzt erneut – und zwar in zugespitzter Form – vor allem von Deutschland aus diskursiv verbreitete Antithese von 'Kultur' und 'Zivilisation' ohne die desillusionierende Erfahrung des Ersten Weltkriegs ein derart bemerkenswertes Echo gefunden hätte.

Von Ende 1918 bis zum März 1920 machte Liang Qichao eine Europareise, also genau zu jener Zeit, als Europa in vieler Hinsicht von besagter allgemeinen Dekadenzstimmung geprägt war: einer Atmosphäre mithin, wie sie schlaglichtartig der Titel von Spenglers Buch Untergang des Abendlandes (1918/22) beleuchtet. In Europa sah Liang Qichao angesichts zunehmender Kritik an der Äußerlichkeit des modernen Fortschritts durchaus schon mit anderen Augen die westliche Zivilisation und betrachtet sie nun als einen "unnatürlichen Zustand" bzw. "krankhaften Zustand".[76] Und "die große Pflicht der Chinesen für die Weltzivilisation" besteht seiner Meinung nun vor allem darin, daß "jeder aus ganzem Herzen die eigene Kultur schätzt und schützt".[77]

Vereinzelt findet man 'wenhua' als Übersetzung des Begriffs 'Kultur' ('culture') bereits gegen Ende des 19. Jhs., jedoch noch undifferenziert nur als Synonym der herkömmlichen Begriffe wie 'jiaohua', 'wenwu' usw. Einer der ersten, die tastend 'wenhua' von 'wenming' zu differenzieren suchen, ist Lu Xun, jedoch ohne eindeutig anzugeben, ob er einen Unterschied zwischen beiden Begriffen sieht. Er kritisiert z. B. Anfang des 20. Jhs. schon die negativen Seiten der modernen 'wenming' [Zivilisation] und plädiert für eine "tiefgründige", geistige 'wenhua' [Kultur]. Allerdings werden die beiden Begriffe bei ihm nicht als Antithese oder Opposition konstruiert. In gewisser Hinsicht verwendet er 'wenhua' und 'wenming' immer noch synonym: "Die Kultur ['wenhua’] gilt oft als etwas Tiefgründiges. [...] Demgemäß wird die Zivilisation [‚wenming’] des 20. Jahrhunderts sich durch ihre Tiefgründigkeit und Tiefsinnigkeit von der des 19. Jahrhunderts unterscheiden."[78]

Terminologisch verfestigte sich erst in der zweiten Dekade des 20. Jhs., als die Erkenntnis der Relativität der Maßstäbe für 'Kultur' sich mehr oder weniger ausgebreitet hatte, allmählich der Wenhua-Begriff, wenngleich er mehr oder weniger im Schatten von 'wenming' stand, und drang jetzt auch langsam in den allgemeinen Sprachgebrauch ein - dies wohl auch beeinflußt von westlichen Strömungen, die Kultur und Zivilisation gegeneinander ausspielten: Einerseits hatten chinesische Intellektuellenkreise die neue europäische Debatte und damit die Differenzierung von 'Kultur' und 'Zivilisation' sowie auch jene ideologische Typologie der großen Kulturen (oder "Morphologie der Weltgeschichte") eines Oswald Spenglers kennengelernt. Andererseits wandten sich viele Europäer, enttäuscht von der Entwicklung der Vergangenheit, verwirrt oder ernüchtert von der Katastrophe des Ersten Weltkrieges, deprimiert angesichts fragwürdig gewordene Lebensmaximen, vom eigenen Gestern ab und suchten – wie zeitweise Artaud – alles oder nahezu alles Heil im Osten. Diese nicht nur modische Wendung gen Osten (die wir auch bei Hermann Hesse, bei Ezra Pound, bei Keyserling, bei R. Wilhelm und anderen finden) ist zum Teil Ausdruck einer Sehnsucht mancher Europäer jener Jahre nach der reinen Harmonie von Natur und Seele, wie sie etwa Zhuangzi verkörpert, oder nach der Moralität eines Mozi oder Konfuzius. Diese Trendwende, die, stimuliert durch die Werke gewisser Intellektueller, Dichter, und Künstler, sich damals – zumindest an den Rändern – im Geistesleben Europas bemerkbar macht, wirkte sich umgekehrt auch auf chinesische Intellektuellen- und Schriftstellerkreise aus im Kontext ihres Strebens nach Identifikation und mithin bei ihrer Suche nach der eigenen Kultur, nach 'guocui' bzw. der Quintessenz chinesischer Kultur als "Exponat auf der Weltkultur-Messe"[79].

Zum Schluß, um die Rezeption westlicher Theorien im China der zwanziger Jahren einmal mehr zu verdeutlichen, möchte ich die Anschauungen zweier Prominenter über den Kultur- und Zivilisationsbegriff anführen und damit diesen Vortrag [diese Studie] beenden. Hu Shi veröffentlichte 1926 einen Artikel mit dem Titel "Unsere Einstellung zur neuzeitlichen Zivilisation des Westens" und hat direkt am Anfang des Textes "grundlegende Gedanken als Diskussionsbasis" aufgestellt:

1.Zivilisation ist die Gesamtleistung einer Nation im Umgang mit und in Abhebung von der Umwelt.

2.Kultur ist die von einer Zivilisation zustandegebrachte Lebensform.

3.Die Entstehung einer Zivilisation birgt mit Notwendigkeit zwei Faktoren in sich: Erstens den materiellen, der mit der Kraft und dem Wesen der Natur zu tun hat; zweitens den geistigen; dieser umfaßt die Intelligenz und Weisheit, die Gefühle und Ideale einer Nation. Zivilisation ist das Resultat und die Errungenschaft der Bewältigung der Natur durch die Intelligenz des Menschen. Keine Zivilisation ist nur geistiger Natur, ebenfalls ist keine Zivilisation nur eine materielle.[80]

Die drei "grundlegenden Gedanken" bilden eindeutig auch Hu Shi's Definition und Erläuterung der beiden Begriffe; und er meint u.a., daß diese "drei grundlegenden Gedanken keiner näheren Erklärung bedürfen und für jeden mit diesem Thema Beschäftigten ja akzeptabel sind".[81] Direkt danach erschien ein Artikel mit dem Titel "Zivilisation oder Kultur" von Zhang Shenfu (1893-1986), der an jedem der drei Aspekte von Hu Shi zweifelte und dessen "Definition der Zivilisation für alles andere als akzeptabel" hielt,[82] "weil hier geistige und materielle Faktoren überhaupt nicht zu unterscheiden sind."[83] Zur Widerlegung der Antithese von Zivilisation und Kultur stützt er sich auf umfangreiches Material, um zu zeigen, daß Zivilisation und Kultur nicht zweierlei sind:

"Es wurde behauptet, daß sich in 'Zivilisation' eine spezifisch englische und französische, in 'Kultur' hingegen eine spezifisch deutsche Geisteshaltung niedergeschlagen hätten. Aber für die Forscher von heute entsprechen sich beide Begriffe weitgehend."[84]

Von daher weist Zhang Shenfu darauf hin:

"Meiner Meinung nach sind 'wenming' und 'wenhua' im Chinesischen nur zwei Namen für eine Sache, etwa wie 'suanxue' und 'shuxue' für Mathematik: ein Fachausdruck und ein geläufiger Ausdruck. Man sollte sie nicht willkürlich unterscheiden, oder höchstens in dem Sinne: Wenhua-Kultur ist lebendig, während Wenming-Zivilisation ein Resultat darstellt. Es sind nur zwei Aspekte einer Auffassung."[85]



[1] Vgl. Fang Weigui, "Yi, Yang, Xi, Wai - Zum wort- und begriffsgeschichtlichen Wandel des Chinesischen im 19. Jahrhundert", in: Orientierungen, Universität Bonn, 1/2000, S. 15-46.
[2]Song Yuren, Taixi ge guo caifeng ji [Aufzeichnungen der Sitten und Gebräuche verschiedener Länder im Westen], in XFH, Zai bubian. Shi yi zhi. [Nachträge zum Ergänzungsband], Abteilung 11, S. 40.
[3]Vgl. Cheng Xulu, "Bian YiYang" [Über Yi und Yang], in ders., Jindaishi sibian lu [Gedanken zur Geschichte der Neuzeit], Guangzhou 1984, S. 25f.
[4]Hong Rengan meinte, daß die Bezeichnung der Ausländer als YiDi, Rong, Man oder als Guizi [Teufel] nur als ein angeblicher Sieg im Redestreit zu verstehen sei, was mit den Tatsachen gar nichts zu tun habe. - Siehe Cheng Xuelu, Anm. 3, S. 27.
[5]Wang Tao, Tao yuan chi du [Gesammelte Werke von Wang Tao], zit. nach Cheng Xulu, Anm. 3, S. 27.
[6] Liang Qichao, ”Zhongguo shi xulun” [Einführung in die chinesische Geschichte], in ders: Yinbingshi wenji [Gesammelte Werke von Yinbingshi], 16 Bände, hrsg. von Lin Zhijun, Shanghai 1932 (unten abgekürzt als YBSJ), sechste Abteilung, S. 12.
[7] Eric J. Hobsbawm, Das imperiale Zeitalter, 1875-1914, (Originaltitel: The Age of Empire 1875-1914, London 1987) Frankfurt a/M, New York 1989, S. 353.
[8]Lu Xun, "Über falsche Tendenzen in der Kultur" (Wenhua pianzhi lun), in ders.: Werke in sechs Bänden, hrsg. von W. Kubin, Zürich 1994, Bd. V, S. 55 u. 60.
[9]Feng Guifen, "Zhi yang qi yi" [Über die Produktion westlicher Maschinen und Geräte], in ders., Jiaobinlu kangyi [Gewagte Ansichten aus Jiaobinlu], Zhengzhou 1998, S. 198. - Die Schrift wurde in den Jahren 1860/61 verfaßt, kursierte nur als Abschrift und wurde erst nach dem Tod des Autors offiziell veröffentlicht (1883).
[10] Tan Sitong, "Bao Bei Yuanzheng" [An Bei Yuanzheng], in ders., Tan Sitong quanji [Das Gesamtwerk von Tan Sitong], Beijing 1981, Bd. 1, S. 225.
[11]Zur chinesischen Geistesgeschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jhs., insbesondere zur Ent­stehung neuer Ideen unter ausländischem Einfluß, vgl. vor allem Wang Er’min, "Shijiu shiji zhongguo shidafu dui zhong xi guanxi zhi lijie ji yansheng zhi xin guannian" [Das Verständnis der chinesisch-westlichen Beziehungen seitens der chinesischen Beamten und Gelehrten und die Ent­stehung der damit zusammenhängenden neuen Einstellungen im 19. Jh.], (1974), in ders.: Zhongguo jindai sixiangshi lun [Abhandlungen über die neuzeitliche Ideengeschichte Chinas], Taibei 1995, S. 1-94.
[12]In der chinesischen Geschichtsschreibung vor der Post-Mao-Ära wurde zugunsten der 4.-Mai-Bewegung (als historischem Wendepunkt und Anfang der modernen chinesischen Geschichte) die dieser vorangehende Entwicklung, also die geistige Vorbereitungszeit ab ca.1840, kaum beachtet, während doch wesent­liche Gesichtspunkte, Werte und Ziele der 4.-Mai-Streiter in vieler Hinsicht ihren Vorgängern geschul­det sind und viele Gedanken - sei es, daß es sich um direkt aus dem Westen übernommenes Gedanken­gut handelt, sei es um auf eigene Reflexion zurückzuführende Reformkonzepte - bereits im 19. Jh. ihre Ansätze und Anstöße finden, die von entscheidender, dem Neuen bahnbrechen­der Bedeu­tung sind. Indem wir einerseits darauf hinweisen, daß die 4.-Mai-Bewegung nicht 'Wasser ohne Quelle' ist, müssen wir uns andererseits im klaren sein, daß es sich bei den Arbeiten der Vorläufer während der zweiten Hälfte des 19. Jhs. um eine unabdingbare Vorbereitung der späteren soziokulturellen Entwicklung handelt - nicht mehr und nicht weniger. Und es geht in dieser Vorlaufzeit (ohne dabei Kang Youwei’s berühmte Memoranden an den Thron und die gescheiterte 'Hundert-Tage-Reform' außer acht zu lassen, auch ohne verschiedene Aktivitäten einzel­ner Zirkel und Zeitungen zu ignorieren) nicht selten sogar um Einzelkämpfertum, oder um persönliche Empfindung und Reaktion auf die Situation (you gan er fa), wie wir sie - um hier nur einige wenige Beispiele zu nennen - in jenen Werken wie Jiaobinlu kangyi [Gewagte Ansichten aus Jiaobinlu] (1860/61) von Feng Guifen und Shengshi wei yan [Warnung in der Friedenszeit] (1894) von Zheng Guanying (1842-1921) kennenlernen, oder auch in den ganzen Reiseberichten und -tagebüchern aus der besagten Periode. Die 4.-Mai-Bewegung hat schließlich die progressiven Tradi­tionen und den kriti­schen Geist der spät-kaiserlichen Zeit weitergeführt und alles eben zu einer Bewegung vereinigt, wobei man derselben dann durchaus eine neue Qualität zubilligen kann.
[13]Vgl. Wang Er’min, "Qing ji zhishifenzi de zijue" [Das Erwachen der Intellektuellen in der späten Qing-Zeit], in ders.: Zhongguo jindai sixiangshi lun [Abhandlungen über die neuzeitliche Ideengeschichte Chinas], Taibei 1995, S. 95-164.
[14] Zu den politischen und geistigen Strömungen der späten Qing-Zeit, vgl. Wang Er’min, "Wan qing zhengzhi sichao zhi dongxiang" [Die Entwicklungstendenzen der politischen Strömungen in der späten Qing-Zeit, 1972], in ders.: Zhongguo jindai sixiangshi lun [Abhandlungen über die neuzeitliche Ideengeschichte Chinas], Taibei 1995, S. 165-208.
[15]Wang Tao, "Nachwort" (Ba) zu Zheng Guanying, Yi yan. Sanshiliu pian ben [Worte zur Umwand­lung. 36 Aufsätze, 1880], in ders., Zheng Guanying ji, Shang [Gesammelte Werke von Zheng Guanying], hrsg. von Xia Dongyuan, Shanghai 1982 (unten abgekürzt als ZGYJ), Bd. 1, S. 167.
[16]Guo Songtao, "Tielu yi" [Über Eisenbahn, 1889], in ders., Yangzhi shuwu wenji. Ershiba [Gesam­melte Werke des Yangzhi-Studierzimmers. Nr. 28].
[17]Tan Sitong, "Shang Ouyang Zhonghu shu" [An Ouyang Zhonghu], in ders., Tan Sitong quanji [Das Gesamtwerk von Tan Sitong], Beijing 1981, Bd. 1, S. 161.
[18]Fan Zhui, "Kaicheng pian" [Offene Aussprache], zit. nach Wang Er’min, "Shijiu shiji zhongguo shidafu dui zhong xi guanxi zhi lijie ji yansheng zhi xin guannian" [Das Verständnis der chinesi­schen Gelehrten und Beamten von den chinesisch-westlichen Beziehungen und die Entstehung der damit zusammenhängenden neuen Einstellungen im 19. Jh., 1974), in ders.: Zhongguo jindai sixiangshi lun [Abhandlungen über die neuzeitliche Ideengeschichte Chinas], Taibei 1995, S. 94.
[19]Siehe insbesondere Yi jiao congbian [Verteidigung der heiligen Lehre. Eine Sammlung], hrsg. von Su Yu, 1898.
[20] Xue Fucheng, in: Zheng Guanying, "Jiaoshe", Fulu, "Xue Shuyun xing shi ‘Bianfa lun’" [Die auswärtigen Angelegenheiten. Anhang: Der Diplomat Xue Shuyun [Xue Fucheng], "Über die Reform"], in ders., Shengshi wei yan [Warnung in der Friedenszeit] (1895), in: ZGYJ, Bd. 1, S. 434.
[21]Der Gedanke, die chinesische Tradition und Ethik als Fundament beizubehalten und westliches Wissen für die technische Modernisierung anzuwenden, stammte von Feng Guifen ("Cai xixue yi" [Über die Übernahme westlichen Wissens], in ders., Jiaobinlu kangyi [Gewagte Ansichten aus Jiaobinlu], 1860/61). Danach gab es unzählige Formulierungen und Interpretationen dieses Gedan­kens. Der Ausdruck 'zhong xue wei ti, xi xue wei yong' als eine Art feste Formel (ein Slogan oder politi­sches 'Sprichwort') debütierte aber erst im April 1895 in «Wangguo Gongbao» (Globe Magazine), und zwar in dem Artikel von Shen Yugui (1808-1907) ("Kuang shi ce" [Korrektur der aktuellen politischen Situation]). Die spätere Geschichtsschreibung verbindet diese Devise oft mit dem Namen Zhang Zhidong (1837-1909), der sich in seiner bekannten Schrift Ermahnung zum Lernen [Quan xue pian, 1898] intensiv mit dieser Problematik beschäftigt hat. Dies hat insofern seine Berechtigung, als es tat­sächlich Zhang Zhidong war, der diese Devise am besten 'zusammengefaßt' und interpretiert hat - nicht mehr und nicht weniger. Es muß natürlich als ein Mißverständnis ange­sehen werden, sollte man meinen, daß nur Zhang Zhidong dieses Thema reflektierte, daß des weite­ren die Formulierung seine Handschrift trage und auch von ihm in die Wege geleitet sei. Der Gedanke war vor ihm ja nicht unbekannt und nach 1895 ziemlich populär. Übrigens war die Formu­lierung in seiner Ermahnung zum Lernen eine andere: dort finden wir den Ausdruck 'jiu xue wei ti, xin xue wei yong' oder die alten [chinesischen] Lehren als Substanz, die neuen [westlichen] Lehren zum Gebrauch - und dies gerade zu einer Zeit, wo man in gewisser Hinsicht den Begriff 'xinxue' [neues Wissen] dem anderen - 'xixue' [westlichem Wissen] - vorzog. - Über dieses Thema siehe u. a. Sun Guangde, Wanqing chuantong yu xihua de zhenglun [Die Debatten über Tradition und Verwestlichung in der späten Qing-Zeit], Taibei 1982; Chen Xulu, "Lun zhong ti xi yong" [Über ‘Chinesisches als Kern, Westliches zum Gebrauch’"], in ders., Jindaishi sibian lu [Gedanken zur Geschichte der Neuzeit], Guangzhou 1984, S. 42-69; Wang Er’min, "Qingji zhishifenzi de zhong ti xi yong lun" [Auffassungen der Intellektuellen über 'Chinesi­sches als Kern, Westliches für den Gebrauch' in der späten Qing-Zeit], in ders., Wanqing zhengzhi sixiang shilun [Abhandlungen über die Geschichte des politischen Denkens in der späten Qing-Zeit], Taibei 1995, S. 51-71; Ding Weizhi/Cheng Song, Zhong xi ti yong zhijian - wan qing zhong xi wenhuaguan shu lun [Zwischen China und Westen, Essenz und Gebrauch - Kommentar zu den Einstellungen zur chinesischen und westlichen Kultur in der späten Qing-Zeit], Beijing 1995.
[22]Lu Xun, Anm. 8, S. 58.
[23]Betrachtete man zur Zeit des Opiumkriegs das westliche Wissen allgemein noch - im pejorativen Sinne - als 'yi xue' [Wissen des Barbaren], so warin den letzten Jahrzehnten des 19. Jhs. 'xi xue' [westliches Wissen] schon ein ganz und gar positiv besetzter, populärer Begriff. Um vor allem den konservativen Kontrahenten, denen das westliche Wissen schon immer ein Dorn im Auge war, Paroli zu bieten, wurde um die Jahrhundertwende parallell zu 'xi xue' programmatisch ein neuer Begriff propagiert: xinxue. Während bei Liang Qichao 1896 'westliches Wissen' noch als 'xi xue' firmierte - so in seinem Buchtitel Xixue shumubiao [Bibliographie des westlichen Wissens], bekamen ähnliche, auf Innovation und Modernisierung zielende Bücher nun auch neue Titel, wie im Fall von Wichtige Bibliographie des neuen Wissens. Die Änderung des Namens erfolgte nicht zuletzt aus der Überlegung, daß Wissenschaft ein unendlicher Prozeß ohne Grenze sei und daß insofern die Trennung des Denkens und des Erkennens (bzw. der Erkenntnis) in eins des Ostens und und eins des Westen nicht notwendig sei. Was nun das 'neue Wissen' - im Gegensatz zum alten chinesischen Wissen - angeht, so handelt es sich dabei fraglos in der Hauptsache um wissenschaftliche Erkennt­nisse aus dem Westen. Die Polarität des 'Chinesischen' und des 'Westlichen', des 'Alten' und des 'Neuen' postu­lierte automatisch die Unterscheidung der Kulturen und eine Tendenz und Haltung des Menschen zu den jeweiligen (heterogenen) Kulturen. Sie enthält gleichzeitig die Auslegung und Erklärung des west­lichen Wissens, die Analyse von dessen Charakter sowie die Bewertung desselben. - Zu erwähnen sind noch folgende Bücher zum 'neuen Wissen': Timothy Richard (Li Timotai), Qi guo xinxue beiyao [Wichtiger Vermerk zum neuen Wissen aus sieben Ländern], Guangxue­hui/Shanghai, 1898; Young J. Allen (Lin Lezhi)/Timothy Richard (Li Timotai), Xinxue Huibian [Dokumente zum neuen Wissen], hrsg. von Cai Er’kang, Guangxuehui/Shanghai, 1898; Xu Weize, Dongxixue shulu [Bibliographie des östlichen und westlichen Wissens], 1898; Xinxue dacongshu [Bücherreihe zum neuen Wissen], Shang­hai jishan jiaoji shuju 1903/04; Shen Zhaohui, Xinxue shumu tiyao [Wichtige Bibliographie des neuen Wissens], Tongya shuju 1904.
[24]Darunter Spencers A Study of Sociology (1897), Huxleys Evolution and Ethics (1897), Adam Smiths Wealth of Nations (1902), Mills On Liberty (1903) und Montesquieus L’Esprit des Lois (1905).
[25]Lu Xun, “Über die Macht der dämonischen Poesie” [Moluo shi li shuo], in ders.: Werke in sechs Bänden, hrsg. von W. Kubin, Zürich 1994, Bd. V, S. 92.
[26]Siehe Liang Qichao, Jingshi wen xinbian. Xu ["Vorwort" zu: Neue Ausgabe der Texte der Herrschafts- und Verwaltungs­tech­niken] (1897), in: YBSJ, Bd. 1, zweite Abteilung, S. 47. (Hervorhebun­gen von mir: F.W.)
[27]Vgl. Liang Qichao, "Lun bu bianfa zhi hai" [Ohne Reform großer Schaden], in ders., Bianfa tongyi [Allgemeines über die Reform], 1896], in: YBSJ, Bd. 1, erste Abteilung, S. 2-8.
[28]Liang Qichao, "Shi ge" [Erläuterung zu Reform und Revolution], in: YBSJ, Bd. 1, neunte Abtei­lung, S. 44. (Hervorhebungen von mir: F.W.) - In "Shi ge" hat Liang Qichao eingangs über die chinesischen Übersetzungen der beiden Begriffe 'Reform' und 'Revolution' diskutiert, wobei er 'gaige' als Pendant zu 'Reform' erachtete und 'biange' als Pendant zu 'Revolution', und zwar im zweiten Fall explizit Stellung nehmend gegen das Lehnwort aus dem Japanischen, 'geming'. Liang hält 'geming' für eine unexakte Übersetzung, dies einfach nur deswegen, weil der alte chinesische Begriff, den die Japaner nun einmal als Äquivalenz für 'Revolution' übernommen haben, eigentlich nur Änderung der Bezeichnung der Dynastie bzw. der Regierungszeit eines Kaisers bedeutete. Trotz der überzeugenden Vorschläge von Liang Qichao wird im heutigen Chinesisch 'geming' als Äqui­valenz für 'Revolution' benutzt. (Das Zitat wurde entsprechend Liang’s Definitionen bzw. Überset­zungen der Begriffe 'Reform' und 'Revolution' übertragen.)
[29]Ebd., S. 43.
[30] Vgl. Jorg Fisch, "Zivilisation, Kultur", in: Geschichtliche Grundbegriffe, Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner†, Werner Conze†, Reinhart Koselleck, Stuttgart: Klett-Cotta, 1997, Bd. 7, S. 679f.
[31]Zur Entstehung und Etablierung des westlichen Kultur- und Zivilisationsbegriffs, siehe u. a. Jörg Fisch, S. 679-774.
[32] Zur Entstehung und Etablierung des modernen chinesischen Kultur- und Zivilisationsbegriffs, vgl. Fang Weigui, "Jinxiandai zhongguo ‚wenming‘ ‚wenhua‘ guan – Lun jiazhi zhuanhuan ji gainian shanbian" [Die Vorstellung von 'Zivilisation" und 'Kultur" im neuzeitlichen und modernen China – Über Paradigmenwechsel und begriffsgeschichtlichen Wandel], in: «Shi Lin» (Historical Review Quarterly), Edited under the auspices of the Institute of History, Shanghai Academy of Social Sciences, Shanghai 1999, Nr. 4, S. 69-83.
[33] Siehe Ishikawa Yoshihiro, "Discussions about 'culture' and 'civilization' in modern China", Vortragsmanuskript, S. 3. (Conference on European thought in Chinese literati culture in the early 20th century, Garchy, 12. Sept.-16. Sept. 1995)
[34] Siehe Ishikawa Yoshihiro, ebd., S. 2.
[35] Siehe Ishikawa Yoshihiro, ebd., S. 6.
[36] Ebd., S. 2.
[37] Es wird im allgemeinen differenziert zwischen culture (engl.; franz.) und civilization (engl.) bzw. civilisation (franz.); cultura und civiltà oder civilizzazione (ital.); cultura und civilizaçao (port.); Kultur und Zivilisation (dt.) usw.
[38] Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Unter­suchungen, Erster Band: Wand­lungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abend­landes, (1. Auflage: 1939) Frankfurt a/M 61989, S. 2.
[39] Robert Morrison, A Dictionary of the Chinese Language, in Three Parts, Part First, containing Chinese and English, arranged according to the radicals, Part Second, Chinese and English arranged alphabetically, Part the Third,English and Chinese, Macao: Honorable East India Company's Press, 1815-1822.
[40]An English and Chinese Vocabulary, In the court dialect, by S. Wells Williams, Macao: Office of the Chinese Repository, 1844.
[41]Dictionnaire Français-Latin-Chinois, De la Langue Mandarine Parlée, par Paul Perny, Paris: Firmin Didot, Frère et Fils, 1869.
[42]A Vocabulary and Hand-Book of the Chinese Language, in two volumes comprised in three parts, by Justus Doolittle, Foochow, Shanghai: Rosario, Marcal & Co., 1872. Part FirstEnglish and Chinese with the letter romanised.
[43]English and Chinese Dictionary, with the Punti and Mandarin Pronunciation, by the REV. W. Lobscheid, Hongkong: Daily Press Office, 1866, Part I .
[44] John Ash, The New and Complete Dictionary of the English Language (1775), zit. OED vol. 2.
[45]An English and Chinese Standard Dictionary, in two volumes, by Yan Huiqing etc., third edition, Shanghai, The Commercial Press, Ltd. (1908) 1910.
[46] Wie z. B. Technical Terms. English and Chinese, prepared by the committee of the Educational Association of China, by Calvin W. Mateer, Shanghai: American Presbyterian Mission Press, 1904; English-Chinese Dictionary of the Standard Chinese Spoken Language and Handbook for Translators, by Karl Ernst Georg Hemeling, Shanghai: Statistical Department of the Inspectorate General of Customs, 1916; Zhexue cidian [Dictionary of Philosophical Terms, by Fan Bingqing, Shanghai: Shangwu yinshuguan 1926.
[47] Wang Rongbao/Ye, Lan Xin Erya [The new Erya], Shanghai: Mingquanshe, 1903.
[48] Huang Moxi, Putong baike xin da cidian [General New Encyclopaedia], Shanghai: Guoxue Fulunshe, 1911.
[49]Baike Minghui. Encyclopedic Terminilogy, by Wang Yunwu, Shanghai: Shangwu chubanshe, 1931.
[50]Dong Xi yang kao mei yue tongji zhuan.Eastern Western Monthly Magazine (1833-1838), Ed.: Karl Gützlaff etc., gesammelt und gesichtet von Huang Shijian, Beijing: Zhonghua Shuju, 1997, S. 292.
[51] Ebd., S. 297, 315, 318, 334, 353.
[52] Vgl. Jörg Fisch, Anm. 30, S. 741.
[53]Guo Songtao, Lundun yu bali riji [Londoner und Pariser Tagebücher], hrsg. von Zhong Shuhe, (Zouxiang shijie congshu. From East To West - Chinese Travellers Before 1911), Changsha: Yuelu Shushe, 1984, S. 491.
[54] Vgl. Jörg Fisch, Anm. 30, S. 709.
[55] Liang Qichao, "Wu shi nian zhongguo jinhua gailun" [Grundriß der chinesischen Evolution seit 50 Jahren], in: YBSJ, 39. Abteilung, S. 43.
[56] Lewis H. Morgan, Ancient Society, or Researches in the Lines of Human Progress from Savagery through Barbarism to Civilization (New York 1878), Vf. (Preface), zit. nach Jörg Fisch, Anm. 30, S. 744.
[57] Xue Fucheng, Anm. 20, S. 433.
[58] Siehe Zheng Guanying, Yi yan. Sanshiliu pian ben [Worte zur Umwand­lung. 36 Aufsätze], (1880), in: ZGYJ, Bd. 1, S. 66; ders., Shengshi wei yan [Warnung in der Friedenszeit], (1895), in: ZGYJ, Bd. 1, S. 374.
[59] Guo Songtao, Anm. 53, S. 627.
[60] Tan Sitong, Ren xue [Lehre vom Menschsein], in ders., Tan Sitong quanji [Das Gesamtwerk von Tan Sitong], Beijing 1981, Bd. 2, S. 344.
[61]Liang Qichao, "Yu Yan Youling xiansheng shu" [An Herrn Yan Youling [Yan Fu], 1896], in: YBSJ, Bd. 1, erste Abteilung, S. 109. (Hervorhebungen von mir: F.W.) - Hier sehen wir auch eine Affinität zwischen Liang Qichao's Auffassung und der später von O. Spengler vertretener These, wonach die Zivilisation unvermeidliches Schicksal sei.
[62]Ai Shi Ke [Liang Qichao], "Guomin shi da yuanqi lun (yi ming: wenming zhi jingshen)" [Über zehn wichtige Charakterzüge des Volks oder Der Geist der Zivilisation, 1899], in: «Qing yi bao» (The China Discussion), reprint, Beijing 1991, Bd. 2, Heft 33, S. 2117. (YBSJ, Bd. 1, dritte Abteilung, S. 61.)
[63]Zheng Guanying, "Yuan jun" [Die Entstehung des Herrschers], in ders., Shengshi wei yan [Warnung in der Friedenszeit, Ausgabe 1900), in: ZGYJ,Bd. 1, S. 337.
[64] Ai Shi Ke [Liang Qichao], "Guomin shi da yuanqi lun [yi ming: wenming zhi jingshen]" [Über zehn wichtige Charakterzüge des Volks oder Der Geist der Zivilisation, 1899], in: «Qing yi bao» (The China Discussion), reprint, Beijing 1991, Bd. 2, Heft 33, S. 2117f. (YBSJ, Bd. 1, dritte Abteilung, S. 61f.)
[65]Chen Duxiu, "Falanxi ren yu jinshi wenming" [Die Franzosen und die neuzeitliche Zivilisation], in: CDWX, Bd. 1, S. 79.
[66] Lu Xun, Anm. 8, S. 82.
[67] F. Engels, Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie (1844), MED Bd. 1 (1970), S. 504.
[68] K. Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1 (1867), MEW Bd. 23 (1975), S. 677.
[69]Chen Duxiu, "Wo zhi aiguozhuyi" [Mein Patriotismus], in: Chen Duxiu wenzhang xuanbian [Ausgewählte Aufsätze von Chen Duxiu], 3 Bände, Beijing 1984, Bd. 1, S. 132.
[70]Chen Duxiu, "Yijiuyiliu nian" [Das Jahr 1916], in: Chen Duxiu wenzhang xuanbian [Ausgewählte Aufsätze von Chen Duxiu], 3 Bände, Beijing 1984, Bd. 1, S. 102.
[71]Vgl. Lin Yü-Sheng, The Crisis of Chinese Consciousness. Radical Antitraditionalism in the May Fourth Era, The University of Wisconsin Press, 1979, S. 6: "It [the May Fourth movement] was a revolt that reflected a profound crises of cultural identity in the consciousness of the twentieth-century Chinese intelligentsia."
[72]Vgl. Hu Shi, "Xin sichao de yiyi" [Die Bedeutung neuer Strömungen], in ders., Hu Shi wencen. Yiji. Juan si [Gesammelte Werke von Hu Shi, Bd. 1, Abteilung 4, 1928], Hefei 1996, S. 530.
[73] Luo Jialun, "Jindai zhongguo wenxue sixiang de bianjian" [Der Wandel literarischer Gedanken in China seit der Neuzeit], in: «Xin Chao» [Neue Strömungen], hrsg. von Fu Si’nian/Luo Jialun, Beijing University Press 1919-1920, reprint, Shanghai 1986, Bd. 2, Heft 5, S. 873.
[74] Siehe Tai Yan [Zhang Binglin], "Bo shen wo xianzheng shuo" [Widerlegung der Theorie einer konstittutionellen Regierungsform in China], in: Minbao, Nr. 21 (6.1908), reprint, Taibei 1969, Bd. 7, S.3334.
[75] Siehe Tai Yan [Zhang Binglin], "Ding fuchou zhi shifei" [Über Recht und Unrecht der Rache], in: Minbao, Nr. 16 (9.1907), reprint, Taibei 1969, Bd. 5, S.2573.
[76] Siehe "Liang Rengong zai zhongguo gongxue zhi yanshuo" [Die Rede von Liang Qichao in Zhongguo Gongxue], in: Dongfang Zazhi, Bd. 17, Nr. 6 (3.1920), zit. nach Ishikawa Yoshihiro, Anm. 33, S. 10.
[77] Siehe Liang Qichao, "Ou you xin ying lu jielu" [Auszüge der Reiseimpression in Europa], in ders., Yinbingshi zhuanji [Gesammelte Werke von Yinbingshi, Zhuanji???], Abteilung 23, S. 37.
[78] Lu Xun, “Wenhua pianzhi lun” [Über falsche Tendenzen in der Kultur"], in: Lu Xun Quanji [Das Gesamtwerk von Lu Xun], Renmin wenxue chubanshe, Beijing 1981, Bd. I, S. 55.
[79] Liang Qichao, "Xianqin zhengzhi sixiangshi" [Geschichte des politischen Denkens vor der Qin-Zeit], in ders., Yinbingshi zhuanji [Gesammelte Werke von Yinbingshi, Zhuanji???], Abteilung 50, S. 1.
[80] Hu Shi, "Women duiyu xiyang jindai wenming de taidu" [Unsere Einstellung zur neuzeitlichen Zivilisation des Westens], in ders., Hu Shi wencen. Sanji. Juan yi [Gesammelte Werke von Hu Shi, Bd. 3, Abteilung 1], (1928), Hefei 1996, S. 1f.
[81] Hu Shi, ebd.
[82] Siehe Zhang Shenfu, "Wenming huo wenhua" [Zivilisation oder Kultur], in: Beijing daxue bainian guoxue wensui. Zhexue juan [100 Jahre erlesene Schriften der Peking Universität über Chinastudien. Abteilung Philosophie], (Original in: Suo Si, 9.9.1926), Verlag der Peking Universität, Beijing 1998, S. 208, 210.
[83] Zhang Shenfu, ebd., S. 211.
[84] Zhang Shenfu, ebd., S. 209.
[85] Zhang Shenfu, ebd., S. 209.