Weigui Fang
DAS
INTERNET: MEDIUM DER „GLOBALEN“ HOMOGENISIERUNG?
ÜBERLEGUNGEN ZU TENDENZEN DER ANPASSUNG UND DES WIDERSTANDS
Man weiß: Eine nicht formatierte
Diskette erkennt der Computer nicht. Das ist auch der Grund der bekannten
Disketten-Formatierung, und zwar nach einer bestimmten Norm. Diese „Regel“ ist
– im übertragenen Sinn – für den Anschluss ganzer Regionen und Gesellschaften
unserer Welt an das Internet gültig. Man hat aber nur eine Möglichkeit:
Entweder lässt man sich ‚formatieren’; der Standard des Systems Internet wird
einen akzeptieren. So kann man sich unter Anerkennung dieses Standards an das
System anschließen. Oder aber: Man lehnt die ‚Formatierung’ ab; dann kann man
allerdings nur draußen vor der Tür bleiben, da das System einen nicht erkennen
kann.
Für Manuel Castells (The Rise of the Network
Society. Information Age, 1.) hat die Globalisierung mit ihrem Informationskapitalismus (Information
Capitalism) eine Art „Vierte Welt” hervorgebracht. Diese so genannte „Vierte
Welt“, schreibt Castells, sei die Welt jener wirtschaftlich rückständigen
Regionen und Länder, deren kulturelle Werte nicht vom Informationskapitalismus
anerkannt werden könnten, da der Westen oder die „plündernden Staaten“
(Predatory States) gegen die „subalternen“ Kulturen der „Vierten Welt“
sozusagen voreingenommen, wenn nicht sogar herablassend eingestellt seien. In
der Tat sind im Zuge des „Globalisierungsprozesses“ die Werte, Normen und
Spielregeln des westlich geprägten Informationskapitalismus so dominant geworden,
dass scheinbar alle Länder mit ihren sehr unterschiedlichen Kulturtraditionen
sich daran halten müssen.
Angesichts des dem Internet
zuzuschreibenden soziokulturellen impact
oder der Infiltration der westlichen Kultur im Internet-Zeitalter befinden sich
also fast alle Entwicklungsländer mehr oder minder in einem Dilemma: Einerseits
können sie sich eine Ablehnung der ‚Formatierung’ offenbar nicht leisten, weil
eine Politik des entschiedenen Widerstands gegen die ‚Formatierung’
wirtschaftlich und politisch nachteilige Konsequenzen haben könnte. Und sie
gelingt ihnen vor allem auch darum kaum, weil die ‚Formatierung’ im Sinne der
Durchsetzung westlich-konsumistischer Werte auch eine Frage der sich weltweit
medial durchsetzenden Diskursformen, inklusive der visuellen Sprache der Medien
(auch jener des Internet!) und hier nicht zuletzt der Bilder der Werbung und
der dadurch geweckten Konsum-Trends und Konsum-„Wünsche“ ist. Es handelt sich
dabei offensichtlich um eine weltweite, system- und kulturenübergreifende
Zeitströmung. Andererseits aber ist das ‚Sich-formatieren-lassen’ in gewisser
Hinsicht auch eine unangenehme Sache; man tut es manchmal recht unfreiwillig,
unterwirft sich jedoch der herrschenden Auffassung, im Zuge der Globalisierung
müsse jedes Land oder jede Region die eigene, herkömmliche Kultur mit einer
einheitlichen Norm messen und messen lassen. Dieser ‚TÜV-Test’ läuft
offenkundig heraus auf Identifikation – eine Identifikation mit jener Norm, die
von den vermeintlich Stärkeren geschaffen ist. Andererseits aber: „Je bewusster
wir uns der globalen Zusammenhänge werden, desto eifriger sind wir dabei,
unsere regionale Identität zu wahren – daher das Paradoxe am globalen Dorf“, so
schreibt Derrick de Kerckhove in seinem Artikel „Jenseits des Globalen Dorfes“.
Wo es in diesem Kontext, statt zu
gleichberechtigtem Austausch, zu einem Aufeinanderprall unterschiedlicher
kultureller Normen und Werte kommt, gewissermaßen einer kulturellen Attacke
seitens der die Globalisierung vorantreibenden Kräfte, sehen dann manche
schnell einen Clash of Civilizations: quasi eine Kraftprobe zwischen
unterschiedlichen Paradigmen und Wertvorstellungen. In solchen Kontexten ist
durch technologische Standards und damit einhergehende kulturelle Bedeutungen
erzwungene ‚Identifikation’ oft ein Prozess neuer Identitätsbildung, die mit
soziokulturellen Erschütterungen des Althergebrachten und Spezifischen, ja mit
sozialen Verwerfungen, um nicht zu sagen, mit Qualen, verbunden ist.
Trojanisches
Pferd?
Man erinnert sich an die Zeit Ende der
80er Jahre des letzten Jahrhunderts: Als die von dem ‚Reformflügel’ um Deng
Xiaoping favorisierte Wirtschaftsreform in China erste Erfolge mit sich brachte
und die vier kleinen ‚Drachen’ (oder ‚Tiger’) Asiens der Weltöffentlichkeit
ihre dynamische Kraft bewusst machten, kursierte plötzliche eine bizarre These:
Die Zivilisation des 21. Jahrhunderts würde vom chinesischen Konfuzianismus
dominiert werden. Darüber wurde seinerzeit vor allem im chinesischen Sprachraum
euphorisch diskutiert – und zwar uneingedenk der Tatsache, dass wenigstens in
der VR China vom Konfuzianismus des chinesischen ancien regime wenig
lebendig geblieben war, und dass der Konfuzianismus in Taiwan und Singapur
mühsam durch autoritäre Regime ideologisch hochgepäppelt wurde. (Was natürlich
nicht heißt, dass in den chinesischen Gesellschaften des 20. und 21.
Jahrhunderts nicht Elemente einer konfuzianistischen Vergangenheit – im
Hegelschen Sinne – ‚aufgehoben’ sind.)
Mit der Entwicklung des Internet und
der Etablierung der Macht neuartiger Diskurse durch das Internet ist diese
zugleich nostalgische und nationalistische Stimme, die Huntingdon’s
simplifizierende These einer „konfuzianistischen Kultur“ in Ostasien begierig
aufgegriffen hatte, ohne Frage schwächer geworden. Vielleicht hat auch die
Asienkrise schließlich dieser in eine „spezifische konfuzianische Kultur“ ihre
Hoffnung setzenden Ideologie den Garaus gemacht. Jedenfalls ist neuerdings von
der „im 21. Jahrhundert sich durchsetzenden Überlegenheit des
konfuzianistischen Asien“ in Ostasien selbst kaum noch etwas zu hören.
Scheinbar bedeutet das Informationszeitalter den Zwang zur Annahme oder
Entwicklung einer neuen Norm, an der nun alles gemessen wird. Bis zum Jahr 2000
betrugen die chinesischsprachigen Online-Angebote nur ca. 4% der Angebote an
weltweiten Websites, während die chinesischsprachige Bevölkerung doch ca. 30%
der Menschen auf unserer Erde ausmacht. Diese Digital Divide tut nicht
wenigen der von der ‚Modernisierung’ ideologisch umgekrempelten Chinesen weh.
Entsprechend wird inzwischen oft
behauptet, dass aufgrund der kulturellen Bedingtheit jeder Technologie deren
Übernahme auch die Übernahme der entsprechenden kulturellen Implikationen
bedeute. Die Etablierung des Internet in China müsse demzufolge mit einer
Übernahme westlicher Wertvorstellungen einhergehen. China würde also im Zuge
seiner technologischen Modernisierung – automatisch zu einem Bestandteil des
von Marshall McLuhan eingeführten global
village nach westlichen Vorzeichen. Es ist dies wirklich – bei aller der
jüngsten Debatte in China einbeschriebenen Fetischisierung und Überbewertung
von Technologien – ein ernstes Thema: Ob man will oder nicht, scheint den
meisten die Globalisierung eine unwiderrufliche Tendenz zu sein. Das Reich der
Mitte will dabei – glaubt man den politischen Autoritäten, den Medien und
inzwischen auch dem Mann auf der Straße – keine ausgeschlossene ‚Insel’, mithin
keine Ausnahme, bleiben.
Während inzwischen der unbestrittene
Globalisierungsfaktor Internetkommunikation immer mehr Menschen fasziniert und
anscheinend sogar die Lebensweise mancher Menschen verändert, haben nicht
wenige Chinesen, allem voran die als „altertümlich“ apostrophierten kritischen
Intellektuellen längst den ‚Wind der Geschichte’ gespürt und über die
Konsequenzen des vom Internet ausgehenden „Effekts“ auf die spezifische Kultur
Chinas reflektiert. Mehr noch: Manche haben sogar eine Art Kulturkrise
herausgefühlt, und es gibt inzwischen nicht wenige, die meinen, dass im
Informationszeitalter die geographischen Hindernisse des Kulturaustauschs
beseitigt seien und der sich unglaublich beschleunigende und immer massivere
kulturelle Ansturm des Westens allmählich die Kulturen der Dritten Welt
zersetze oder marginalisiere. Die in dem medialen Ansturm implizierten, sehr partikulären
und einer bestimmten Zeit und Gesellschaftsformation zugehörigen westlichen
Normen und Werte erwiesen sich gleichsam als herangaloppierendes „Trojanische
Pferd“; sie seien Ausdruck eines westliche kulturellen Kolonialismus.
Sprachbarrieren
im global
village
„Das
Computer-Englisch hat allen den Krieg erklärt, die dieser Sprache nicht mächtig
sind“, schreibt Hu Yong in seinem Buch Ein andersartiger Raum (Bielei Kongjian). „Lerne unsere englische
Sprache, damit wir dich verstehen können – so heißt es. Sonst werden deine
Worte für immer auf verlorenem Posten bleiben.“ In der chinesischen
Internet-Debatte betrachtet man die vorherrschende Nutzung des Englischen nicht
selten als Ausdruck einer Art „Sprachhegemonie“, als „imperialistische Spur im
Cyberspace“, ja als Reflex des „Kultur-Imperialismus“. Angesichts der Tatsache,
dass auch in Asien die englische Sprache statt die geographische und kulturelle
Situierung der Nutzer die Verhältnisse im Cyberspace determiniere, warnte man
in China schon früh vor „schlimmen Folgen“ der Dominanz des Englischen und der
englischsprachigen Anbieter.
Doch auch
diejenigen – Traditionalisten wie Linke –, die in China lauthals „No English,
no business, no net“ schreien, stehen bei aller Vergegenwärtigung des Verlusts
kultureller Eigenheiten, mitten in der lebendigen, sich verändernden,
gegenwärtigen Geschichte. In der Tat: heute kommt kaum noch ein
Intellektueller, ein Forscher, ein Kunstschaffender ohne das Internet aus. Und
dann, im Cyberspace, einbezogen in die Gegebenheiten der Internetkommunikation,
sind sie – wie viele andere Chinesen – immer wieder mit einer „Sprachbarriere“,
den Mühen des Zurechtkommens mit dem Englischen, konfrontiert. Ohne englische
Sprachkenntnisse fühlt man sich im Cyberspace nicht wohl. Aber nicht nur dort,
werfen die euphorischen Befürworter der ‚Modernisierung’ ein: sondern auch im
realen Leben des global village kann
man Chinesisch zu den Akten legen – benötigt man Englisch. Doch vielleicht,
werfen Besonnenere ein, sei ja die Vorstellung vom global village nur als Metapher zu verstehen, die sich auf die
technische Ebene des Informationstransfers beziehe, eine sich als Standard
durchsetzende technologisch innovative Plattform oder Infrastruktur. Im
wesentlichen sei es fraglich, ob global alle Menschen im Zuge der von einigen
Regierungen sowie den Konzernen favorisierten „Globalisierungsstrategie“ auf
eine letztendlich ihre spezifischen kulturellen backgrounds wegwischende, homogene und in gewissem Sinne auch banale ‚village
culture’ reduzierbar seien. Sie setzen vielmehr ihre Hoffnung in eine nicht
uniformierte Gemeinschaft der Menschen dieses Planeten, einen lebendigen,
gleichberechtigten Austausch bei gleichzeitigem Erhalt der Vielfalt der
Kulturen.
Ein
Amerikaner sagte neulich, ganz im Ernst, einem chinesischen Journalisten: „Ich
verstehe kein einziges Wort Chinesisch. Aber ich habe ohne großes Problem hier
ein paar Jahre gearbeitet und gelebt.“ Er meint natürlich: in einer der
Großstädte Chinas. Ein Chinese in Amerika hätte sich zweifellos ohne englische
Sprachkenntnisse nicht so lange Zeit ohne Probleme durchschlagen können, außer
vielleicht in China Town. Nehmen wir ein anderes Beispiel: Ein chinesischer
Künstler kam nach langer Zeit aus Amerika zurück. Als er gefragt wurde, wie er
sich dort ohne englische Sprachkenntnisse so lange Zeit aufhalten konnte, war
er nicht so cool und selbstsicher wie jener Amerikaner. Seine Antwort war eine
rhetorische Frage: Leben dort nicht auch Taubstumme? Angesichts seines
verlegenen Lächelns spürt man, ihm war die Frage unangenehm.
Derartige
Erfahrungen und aus ihnen erwachsende Attitüden spiegeln natürlich auch einen
Zusammenhang: den der Dominanz des Englischen im Weltmaßstab, eine Tatsache,
die nicht zu trennen ist von der politischen und wirtschaftlichen Dominanz der
USA. Aber 1996 schrieb Paul Treanore in seinem ideologiekritischen Artikel „Der
Hyperliberalismus des Internet“ (Internet as Hyper-Liberalism) folgendes: „Die
gegenwärtige Vorherrschaft des Englischen im Netz mag eine zeitweilige sein. Im
gleichen Maße, in dem die Verwendung nationaler Sprachen zunimmt, wird der
nationale Gebrauch des Netzes wachsen – der internationale Gebrauch wird
entsprechend zurückgehen, der US-amerikanische unverändert andauern. Wenn
demgegenüber die Netzideologie die universale Kommunikation voraussetzt, so ist
dies in sich falsch.“ Als Treanore dies prophezeite, gab es in China vermutlich nur 40.000 Internetnutzer, anstatt 68 Millionen bis Ende Juni
2003.
In der
chinesischen Debatte über das, was man als Problem der Dominanz der englischen
Sprache im Internet thematisiert, hören wir manchmal eine ziemlich
melancholische Stimme: Die erlebte „Invasion“ durch eine Sprache verletze
sicher nicht das Völkerrecht. Aber für eine unabhängige Nation sei die von
dieser „Invasion“ verursachte Verletzung des kulturellen Selbstbewusstseins
oder Selbstverständnisses vielleicht noch größer als die durch einen Krieg
ausgelöste Traumatisierung. Besonders in der gegenwärtigen Diskussion über die
hybride Sprache im chinesischen Internet, vor allem in den chatrooms, sind solche klagenden Stimmen oft zu hören. Die Angehörigen der Internet-Generation dagegen – diese new species, wie man oft sagt – schwärmen vom ‚American way of life’,
pflegen das, was man inzwischen in China einen e-lifestyle nennt, und würzen
ihre chinesische Sprache mit Versatzstücken eines „Internet-Jargons“.
Chinas kulturelle Identität im
Cyberspace
Zhu Bangfu, der vor 23 Jahren das
chinesische Textverarbeitungssystem „Cangjie“ 仓颉 erfunden hat und als „Vater des
chinesischsprachigen PC“ angesehen wird, äußert sich schon seit längerem in dem
Sinne, dass es ihm darum gegangen sei und immer noch darum gehe, der Dominanz
der englischen Sprache im IT-Sektor ein Ende machen. Sein Streben gilt
natürlich nicht nur der „Sinisierung des Computers“; er behauptete vor einem
Jahr sogar, dass innerhalb von fünf Jahren China mit seinen neuen Produkten die
Amerikaner hinsichtlich ihrer führenden Stellung in den entscheidenden
technologischen Bereichen der internetgestützten Kommunikation ablösen wird. Es
bedarf offensichtlich einer ganz schönen Portion Mut, um sich solchen Ansichten
anzuschließen. Aber inzwischen ist man in China zuversichtlich, dass im Jahr
2005 (wenn die Statistik nicht täuscht oder enttäuscht) die Zahl der
chinesischen netizen die 200
Millionen-Marke erreicht haben wird und damit China die größte
‚Internet-Nation’ der Welt sein würde. Für das Jahr 2007 prognostiziert man
sage und schreibe 300 Millionen chinesische Nutzer. Chinesisch würde damit also
bald schon auch statistisch gesehen eine der meistgenutzten Internet-Sprachen
sein, ohne allerdings mehr als geringfügige Bereiche außerhalb der Gemeinde
jener Internetnutzer zu erschließen, deren Muttersprache ohnehin Chinesisch
ist. Dies bliebe eben genau die Differenz zum „offensiven“ Englisch, deren sich
– ob nun durch die Umstände dazu gezwungen oder nicht – nach wie vor immer mehr
Menschen bedienen, die sich dieser Sprache durchaus nicht als „native speakers“
zu befleißigen wissen. Insofern würde also mit der Zahl der chinesischen
Internetnutzer durchaus nicht der „internationale Einfluss“ Chinas und seiner
Kultur wachsen. Chinesisch würde wohl nach wie vor kaum Kommunikations-Routen
nach „Außen“ erschließen. Man muss diese Differenz zum Englischen im Auge
behalten.
Immerhin ist die Frage, ob chinesische
Nutzer des Internet gegebenenfalls auf Englisch verzichten können (wenn sie es
denn wollen), eine kommunikations- und kulturpolitisch eminent wichtige Frage,
gerade auch angesichts der weiter steigenden Zahl der Nutzer (und somit auch
einer wachsenden Bedeutung?) des Internet in China. Neben der von Zhu Bangfu
bereits vor einer Reihe von Jahren auf die Tagesordnung gesetzten „Sinisierung
des Computers“ gibt es andere Indizien dafür, dass diese Problematik
reflektiert und verstanden wird. So begann das China Internet Network
Information Center (CNNIC) – unter dem Motto „Chinesen sollen selbst über die
chinesischen Internet-Adressen bestimmen“ – Ende 2000 mit der Registrierung
rein chinesischsprachiger Domain-Namen: 60.000 Registrierungen gingen in den
ersten Stunden ein, nach zwei Tagen waren es schon 450.000. Seither enden die
chinesischen Internet-Adressen entweder mit dem Kürzel .cn oder mit 中国, dem chinesischen Zeichen für China. Man habe damit endlich „die
Sprachhürde überwunden, die Chinesen bisher den leichten Zugang zum Netz
verbaut hat“, hieß es 2000 in einem Artikel der Parteizeitung People’s Daily. Mit der Abwendung von
der gängigen Internet-Norm, wonach das Land des Nutzers mit einem aus zwei
lateinischen Buchstaben gebildeten Kürzel anzugeben sei, geradezu im nationalen
Alleingang will man „Chinas kulturelle Identität“ im Cyberspace offensichtlich
wiedergewinnen. Mag sein, dass man es sich damit etwas leicht macht und die
Durchsetzung einer chinesischen Alternative für .cn überbewertet, aber es ist –
zugegebenermaßen – ein Anfang. Oder auch mehr, wenn nämlich zutrifft, was Treanore in dem erwähnten Artikel
feststellt, dass wir nämlich „möglicherweise ein Erstarken nationaler Kulturen
erleben werden“ und dass sich damit in Ausdifferenzierung des existierenden
(hauptsächlich US-amerikanisches) Internet eine ganze andere Realität parallel
existierender, nationaler Varianten entwickelt.
Bis Mai 2003 war nur von einer
Testphase die Rede, in der die Registrierung und Nutzung der
chinesischsprachigen URL-Adressen möglich sein sollte. Am 9. Mai 2003 kündigte
CNNIC an, dass nun das dem internationalen Standard entsprechende System die
chinesischsprachigen Domain-Namen offiziell integriert habe. Die chinesischen
Nutzer können sich jetzt nicht nur mit dem Kürzel .cn ins Netz
einloggen, sondern auch mit .中国, .网络 oder .公司, den chinesischen Zeichen für China, net und com. Man
kann z.B. mit „http://北京大学.cn“ zur Website der Peking Universität gehen. Statt dem englischen dot
(.) zwischen dem chinesischen Namen und dem Kürzel kann der Nutzer den
chinesischen Punkt 。verwenden, um sich den umständlichen Sprachwechsel auf der Tastatur zu
ersparen. Im Moment sind bereits eine halbe Million solcher auf lateinische
Buchstaben verzichtenden chinesischen Domain-Namen registriert.
Der Einstieg in eine vorgeblich globale
„Kommunikationsgesellschaft“ stellt China in verstärktem Maße vor eine Frage,
die bereits seit dem 19. Jahrhundert Chinas Geschichte prägt: nämlich, ob das
Land einen Kurs „fortschreitender Verwestlichung“ einschlagen oder unter
nostalgischer, kulturkonservativer Verteidigung seiner „traditionellen“ Werte
vor allem westliche Technologien einführen soll? Es ist dies übrigens eine
binäroppositionelle Entweder-Oder Fragestellung, deren Absurdität in der
Debatte der Vorkriegszeit schon Lu Xun entlarvte. Dennoch kommt diese
binäroppositionelle Debatte immer wieder neu in Schwung, so auch heute. Die
fortschrittlicheren unter den Intellektuellen wissen natürlich, dass es darum
gehen muss, bei gleichzeitiger Weiterentwicklung seiner eigenen, spezifisch
chinesischen (d.h. das traditionelle Erbe rezipierenden, wo nötig, bekämpfenden
und hegelianisch aufhebenden) Soziokultur (mit ihren den konkreten
Lebensumständen und Bedürfnissen der Bevölkerung entspringenden
Wertvorstellungen) sich einem gleichberechtigten
Austausch mit anderen Kulturen der Welt zu verschließen. Dies schlösse dann
eine technologiekritische Adaption des Brauchbaren, ja Nützlichen aus dem
Fundus der andernorts entwickelten Technologien ein, ganz und gar im Bewußtsein
der Tatsache, dass man nicht alle historischen Fehler anderer Soziokulturen
verspätet nachmachen muss.
Die Reflexion der an spezifische
Bedürfnisse angepassten, also „adaptierten Technologien“, die im Kontext der
notwendigen Umgestaltung der afrikanischen und lateinamerikanischen Landwirtschaft
von dortigen Soziologen und Technik-Spezialisten betrieben wird, wäre also
ebenso zur Kenntnis zu nehmen wie die Kritik von „Großtechniken“ und
„Großbetrieben“ im Westen. Diese kritische Haltung, auch gegenüber „neuesten
Errungenschaften“, angeblich bahnbrechenden Innovationen trifft man in China
bislang leider noch zu selten an. Die Frage „Wem nützt es?“, oder „Was bringt
es, unter welchen Bedingungen, der Bevölkerung an Positivem?“ wird noch zu
selten gestellt, so wie auch über die Gegenfinalitäten, welche neuen
Technologien oder der zur Zeit vorherrschenden Weise ihrer Applikation
innewohnen, noch zu wenig nachgedacht wird. Das gilt selbstverständlich auch
für das Internet und den ganzen „Rattenschwanz“ an Geschäfts, Informations-,
Infotainment und puren Unterhaltungsnutzungen, auch in ihren verschiedenen
Kombinationen, der mit der rein technologisch gegebenen Plattform mit serviert
wird.
Doch kommen wir zurück zu den eingeleiteten, das Internet
betreffenden „Sinisierungs-Schritten“: Wegen der Sprachbarriere, die das
Englische im Internet in bestimmter Hinsicht darstellt, und angesichts der
Tatsache, dass nicht jeder aus dem einfachen Volk bereits gut mit dem Computer
umgehen kann, wird in der chinesischen Debatte der Einführung der chinesischen
URL-Adressen ganz offensichtlich eine strategische Bedeutung für die
Verbreitung und Entwicklung des Internet in China zugesprochen – dies um so
mehr angesichts der rasanten Zunahme der Internetnutzer. Im Augenblick sind
allerdings die meisten chinesischen Websites noch unter .com im Ausland
registriert. Dies bedeutet nicht nur einen Devisenabfluss und eine Belastung
des internationalen Breitbands. Man ist außerdem noch besorgt wegen der
Datensicherheit und einer möglichen Abschaltung oder Lahmlegung des Service in
kritischen Zeiten.
Was diese Debatte über pragmatische „Sinisierungsschritte“
aber ganz offensichtlich ausschaltet oder verdrängt, ist die Einsicht, dass
Ideologien und Werte auch unkritisch importiert werden können, wenn man die
besagten „Sinisierungsschritte“ durchführt. Wie schon in den 20er und 30er
Jahren des vorigen Jahrhunderts stände ihrer Verbreitung (in chinesischer
Übersetzung) nichts im Wege, es sei denn, eine ideologiekritische Reflexion
seitens wacher Denker vom Format eines Lu Xun.
In den USA kann man viele von amerikanischen Unternehmen
genutzte Domain-Namen finden, die gebildet wurden, indem man einfach der
Firmenname mit dot-com (.com) verknüpft hat. Davon ausgehend, kann man – kennt
man den Namen eines bekannten US-Unternehmens – häufig auch auf den genutzten
Domain-Namen tippen. Bei chinesischen Unternehmen ist es aber kaum möglich,
ihre Domain-Namen zu erraten. Daher haben die sogenannten
Internet-Schlüsselbegriffe (Schlüsselworte; statt URL), welche die
Navigation im Internet erleichtern sollen, eine besondere Bedeutung in China:
Der Nutzer braucht also nicht die vielen, fraglos komplizierten URL-Adressen
von chinesischen Firmen auswendig zu lernen. Der erfolgreiche
Internet-Dienstleister www.3721.com z.B.
ermöglicht den Zugriff auf Web-Seiten ausschließlich über die Eingabe von
Schlüsselbegriffen; man findet dort also durch Eingabe des Namens der
jeweiligen Firma oder eines ihrer Produkte, wenn diese bei besagtem Dienstleister
registriert sind, direkt die einschlägigen Informationen im Netz.
Gegründet wurde 3721.com im Jahre 1998 in Peking. In der
chinesischen Umgangssprache gibt es ein geflügeltes Wort: „Egal, dass 3 mal 7
ja 21 gleicht.“ Zu Deutsch: „Wie dem auch sei.“ Oder: „Komme, was da wolle.“
Das ist auch das Motto von 3721.com – jenes Anbieters, der ein lukratives
Geschäft in der Erfüllung der Aufgabe entdeckte, mit Hilfe verschiedener
chinesischer Programme dem einfachen Internetnutzer, der weder Englisch- noch viele
Computerkenntnisse hat, schnell und einfach den Zugang zum Netz zu verschaffen.
Auch dieses ist ein signifikantes Beispiel, wie „Sinisierungs“-Ziele
pragmatisch definiert werden, während man gegenüber den impliziten
soziokulturellen Werten, die im Internet transportiert werden und hier
möglicherweise sogar dominant sind, auf manifeste Art gültig bleibt.
Der Unterschied zwischen der primären Stützung auf
URL-Adressen und dem Gebrauch der Navigationshilfe „Schlüsselworte“ besteht
übrigens wohl hauptsächlich darin, dass der Nutzer nun nicht mehr http://,
www, com, net, cn oder deren chinesischen Pendants 公司, 网络, 中国 einzugeben braucht, sondern nur keywords. Vor
allem über 3721.com kann man mit keywords zu den gewünschten Adressen
und Informationen kommen und so angeblich das finden, „was man will“. (Obwohl
natürlich die Frage erlaubt sein muss, ob es nicht auch jene Internetnutzer
gibt, die im Internet durchaus das, was sie gerne finden würden, was sie also
„wollen“, nie oder fast nie finden – so wie es jene Kinogänger oder
Fernsehnutzer geben mag, die schon lange Zeit nie oder nur selten das Glück
empfinden, das sehen zu können, was sie sich erhoffen: also z.B. Filme von
großer künstlerischer Qualität und hohem Reflexionsniveau.)
Inzwischen ist „3721“ angeblich schon so weit, dass sein tool
– also eine Art „Vermutungsprogramm“ – vorgeblich sogar den Zweck des Nutzers
„erraten“ kann, wenn er sich vertippt oder den Suchbegriff („entry“) nicht ganz
richtig eingegeben hat. Eine technische naive Programmierung steckt dahinter:
gängigen Termini werden nur unwesentlich abweichende Varianten automatisch
zugeordnet. In diesem Fall gibt es dann u.U. mehrere Möglichkeiten zur Auswahl.
Zum selben Ergebnis kann der Nutzer übrigens auch mit dem einfachen
Pingyin-System (also der latinisierten Transkription chinesischer Wörter)
kommen. Das funktioniert, als ob man Schlüsselbegriffe eingebe, indem man nun
die lateinischen Buchstaben hulianwang eintippt statt 互联网 (den
chinesischen Zeichen für dieselbe Sache: Internet).
Inzwischen können bereits 90% der chinesischen
Internetnutzer ihre Suche über IE, MSE Explorer, Netscape, Mozilla, Opera, Net
Captor und Tengxun (腾迅) starten,
die alle das Keyword-Konzept unterstützen. Entsprechend sind gegenwärtig
bereits über 300.000 Unternehmen in China unter solchen Schlüsselworten
registriert, so zum Beispiel die Xinhua Nachrichten-Agentur oder auch
Microsoft. Die tägliche Zahl der Navigations-Zugriffe über Schlüsselbegriffe
beträgt mehr als 30 Millionen. Eine aktuelle repräsentative Usability-Umfrage
in bezug auf Einfachheit, Präzision, Verlinkung, Intelligenz, Funktionalität
etc. von herkömmlichen URL-Adressen, chinesischen Domain-Namen und chinesischer
Schlüsselworte-Nevigationshilfe belegt, dass die letztgenannte Möglichkeit
einen großen Vorsprung aufweist, und zwar noch weit vor den zweitplatzierten
chinesischen Domain-Namen. In China ist der „Generationswechsel“ hinsichtlich
des Internetzugangs nach anfänglichem Setzen auf IP über das Bevorzugen der
üblichen URL-Adressen nun in die dritte Phase (jene der Schlüsselbegriffe)
geraten, wobei die Form von „http://北京大学.cn“
allgemein als eine Art Übergang erachtet wird.
„Mit der chinesischen Schlüsselwort-Navigationshilfe“, heißt
es in den Medien, „hat der chinesische Internetzugang allmählich einen eigenen
Standard geschaffen. Dieser entspricht viel mehr dem Wunsch und der Gewohnheit
der chinesischen Internetnutzer und stellt im Moment die beste
Navigationsmethode in den chinesischen Webs dar.“ Ein anderer Kommentator
meint: „Die Schlüsselwort-Navigationshilfe ist bereits zur ersten Wahl
hinsichtlich der Navigation im chinesischen Internet geworden und damit eines
der beliebtesten Internet-Dienstleistungsangebote in China.“ In der oben
erwähnten Umfrage hat sich 3721.com mit seinen als hervorragend apostrophierten
Dienstleistungen den besten Platz gesichert. Der die Ambition von Zhou Hongyi,
dem Gründer von 3721.com, ausdrückende Wahlspruch lautet übrigens: „Damit die
Chinesen in der eigenen Muttersprache ins Netz gehen können.“
Dasselbe unter der Bezeichnung 3721.com firmierende
Unternehmen – anscheinend bahnbrechend und führend im Bereich der
chinesischsprachigen Internet-Dienstleistung – hat inzwischen übrigens auch das
System der chinesischsprachigen E-mail-Adressen, bezeichnet als Cmail,
entwickelt und ab Mitte August 2003 offiziell ins Internet integriert. Bereits
vor der offiziellen Einführung des Cmail haben sich 1,2 Millionen Nutzer
registrieren lassen; bis Ende Oktober wird es voraussichtlich 10 Millionen
Cmail-Adressen geben. Wie chinesischsprachige Internetangebote generell, so
werden auch Cmail-Adressen für die chinesischsprachigen User gang und gäbe
sein. Dies kann eigentlich nicht verwundern: denn wie Umfragen zeigen, sind die
aus Amerika stammenden, auf lateinischen Buchstaben basierenden E-mail-Adressen
nach dem Muster „abc@def.gh“ immer noch zu kompliziert für viele chinesische Nutzer.
Bei dem von 2731.com entwickelten System kann der Nutzer nun eine Cmail-Adresse
haben, die deutlich anders konzipiert ist, und zwar z.B. nach der Art: 张艺谋@导演, oder auch: 方维规@特里尔 („Zhang
Yimou@Regisseur“; oder „Fang Weigui@Trier“). Diese Art E-mail-Adresse
ermöglicht u.a. auch den Ausdruck einer Eigentümlichkeit des E-Mail Nutzers,
also individuelle Töne in den Email-Adressen. Abgesehen von der völlig freien
Namensgebung kann man hinter dem @-Suffix nun einen Schlüsselbegriff, eine
Website, Firma, Region, Branche, ein Hobby, einen Beruf usw. nennen. In der
chinesischen Internet-Debatte wird der Einführung chinesischsprachiger
Email-Adressen (inzwischen ein Markenprodukt der nach „Kreativität und
Simplizität“ strebenden 3721.com !) eine umwälzende Bedeutung zugesprochen –
und zwar nicht nur für die Erleichterung des e-commerce in China, sondern vor
allem für die Durchsetzung einer spezifischen kulturellen Ausprägung und damit
für die Regionalisierung des globalen Mediums Internet.
Eine relativ neue Untersuchung zeigt, dass in China unter
den beliebtesten Filmen und Schauspielern durchaus westliche Produkte und
westliche Stars zu finden sind; aber die beliebtesten Sänger zum Beispiel sind
ausnahmslos chinesischsprachige performer. Hier ist offensichtlich das
Gewicht einer sprachlichen Hürde im Spiel, da man – wenigstens in der Sphäre
der Pop Musik – nur selten ein fremdsprachiges Lied ins Chinesische übersetzt.
Betont wird in China derzeit aber auch bei der Internetnutzung zunehmend die
eigene Sprache und Kultur. Offensichtlich will man mit dem verstärkten Gebrauch
des Chinesischen im Internet dieses noch neue Medium populärer und seinen Einsatz
fraglos auch lukrativer machen.
Die Praxis scheint daher nicht unbedingt für die These der
zunehmenden „Verwestlichung“ und Anglo-Amerikanisierung Chinas durch das
Internet zu sprechen. In der Debatte über diese Frage vernimmt man inzwischen
nicht selten die Auffassung, entsprechend dem Modell des technologischen
Instrumentalismus sei jede Form der Medientechnik und medialen Kommunikation
als wertfrei und kulturneutral zu betrachten. Das Internet gilt insofern trotz
seiner „Erfindung“ im Westen nicht als per se westliches Instrument. Es kann in
unterschiedlichen Soziokulturen unterschiedlich genutzt, kann unterschiedlichen
Bedürfnissen der jeweiligen Bevölkerungen angepasst werden. Hinsichtlich der
jeweiligen Art der Internet-Nutzung würde dies also bedeuten, dass in China
aufgrund des spezifischen kulturellen Kontextes auch eine chinesische Form der
Internetkommunikation entstehen kann. Es verhält sich, so argumentiert man,
genau so wie mit der längst erfolgten Rezeption von westlichen Pop-Musik-Moden in
China: Das Konzept von Pop-Musik, von massenwirksamem Entertainment, das
Star-System – allesamt bis in die 70er Jahre kritisierte und verpönte Phänomene
– wurde übernommen. Inzwischen ist aber in China auch bei den jungen Leuten die
chinesische Pop-Musik (mit mehr oder weniger verstehbaren Texten und durchaus
anderen Tönen als im Westen) wesentlich beliebter als die Pop-Musik-Importe aus
dem Westen.
Anhand der beschriebenen Relation von übernommenen und nicht
übernommenen Momenten der westlich (vor allem US-amerikanisch geprägten)
„Pop-Kultur“ im chinesischen Kontext seit den 1980er Jahren lässt sich gewiss
trefflich jenes Phänomen reflektieren, das uns brennend interessiert, wenn wir
die Frage nach den dominanten, nicht nur mit der neuen Technologie, sondern vor
allem mit den weltweiten Inhalten des Internet verknüpften Einflüssen des neuen
Mediums sowie nach Art und Ausmaß der „Sinisierung“ des Internet stellen.
Allerdings, so viel ist deutlich: die „Sinisierungsstrategie“, soweit sie von
den Anbietern betrieben wird, lässt inhaltliche, soziokulturelle, auch
ideologische Erwägungen außen vor: ihr geht es vor allem um erleichterte
„usability“ zur Beförderung des Geschäfts. Während natürlich die offiziellen
kulturpolitischen Befürworter der „Sinisierung“ darin eine Waffe zur Abwehr
bestimmter, unerwünschter Inhalte sehen mögen, eine Refokussierung des
Nutzer-Bewusstseins auf eine „chinesische Gedankenwelt.“ Der Kommerzialisierung
des gesellschaftlichen Bewusstseins gegenüber, die mit den gängigen – chinesischen
wie englischsprachigen Inhalten eng zusammenhängt – scheinen sich allerdings
beide Parteien mindestens gleichgültig zu verhalten.
Bei der Internettechnologie haben sich die Chinesen in einem
gewissen Sinne also zuerst „formatieren“ lassen; mit der Zeit jedoch haben sie
sich ganz offensichtlich – in einigen Punkten (etwa, was die Domain-Namen
angeht, die Beschränkung auf die Nutzung des Englischen oder auf mit
lateinischen Buchstaben eingegebene Worte ) – mit der vorgestanzten
amerikanischen Norm nicht abfinden wollen. Sie haben sozusagen das Muster
„übernommen“ und dann variiert, indem sie gemäß den eigenen Bedürfnissen
und Wünschen (sowohl von der Anbieterseite aus wie, im Nachvollzug der neu
gelieferten Optionen, von der Nutzer-Seite aus) „einheimische“ Vorstellungen –
oder was dafür ausgegeben werden konnte – umgesetzt haben, sodass man
inzwischen z.B. über einen „spezifisch chinesischen“ Internetzugang verfügt. Es
geht hier ohne Zweifel um ein vom Geschäftskalkül induziertes, auf
Erleichterung der Internet-Nutzung für die keine Fremdsprache beherrschenden
Massen setzendes Unterfangen, aber zugleich durchaus auch um eine „kulturell
induzierte“ Umformung. Und gerade hier zeigt sich dann ein wichtiges Moment,
bei welchem man wohl bereits von einer kulturspezifischen Aneignungsform von
Online-Angeboten sprechen kann. Das chinesische Internet „okkupiert“ durch
Schaffung der chinesischsprachigen URL-Adressen die „Konvention“ aus Amerika,
um dem Internet so eine spezifische Kulturkomponente zu unterlegen. Diese
Aufhebung stellt fraglos auch eine psychosoziale Widerstandsreaktion gegen eine
totale „Formatierung“ dar. Dass die chinesischen Verhandlungsführer
(stellvertretend für Anbieter und Nutzer in China) mit ihrem Bestehen auf
„eigenartigen“ Domain-Namen sich bei der Internet Engineering Task Force
(IETF), einer der bedeutendsten Organisationen für Internet-Standards,
durchgesetzt haben, ist selbstverständlich ein Ärgernis für das auswärtige
Registry-Geschäft, vor allem jenes des monopolistischen VeriSign/NSI, des
Betreibers der zentralen Datenbank für .com-, .net- und .org-Adressen. Es
bedeutet aber ein Stück chinesisches Selbstbewusstsein und Durchsetzung von
Rücksichten auf die Bedürfnisse chinesischer Nutzer.
Fördert das Internet auf diese Weise die Herausbildung
kultureller Identitäten? Ist dieser kleine Erfolg schon als eine Sicherung
(oder Rückgewinnung) einer Art ‚chineseness’
zu verstehen? Begreift man Identität im Sinne eines dynamischen, sozialen
Konstruktes, so besteht ein wesentlicher Bestand ihrer Erforschung in der
Analyse der sie konstituierenden Prozesse.
Mit der Betonung der chinesischen Sprache im Internet will
man sozusagen Farbe bekennen oder – anders gesagt – gegen den auch durch die
amerikanische technologische Führungsrolle begünstigten US-Kulturhegemonismus
opponieren. Vielleicht geht es hier auch um den Ausdruck jenes, Chinakennern
nicht unbekannten ‚subtilen Gefühls’, um nicht zu sagen, jener Ambition, die
etwa Zhang Chaoyang, Chef von Sohu.com und einer der Protagonisten des
chinesischen Internet, folgendermaßen ausdrückt: „Es gilt, 300 Jahre Demütigung
zu überwinden!“ – Hier handelt es sich wohl um das besonders seit dem
Opiumkrieg immer wieder zu beobachtende Ressentiment vieler Chinesen: angeblich
ein hervorragendes Volk, sieht man sich seit Jahrhunderten schlecht behandelt,
ausgebeutet und gedemütigt vom Westen. Endlich scheint nun vielen die Zeit
gekommen, wo China (nicht zuletzt auch in bezug auf das Internet) mehr oder
minder mit den globalen Trends Schritt halten kann. Mehr noch: man strebt nach
Aufhebung der Abhängigkeit und des wahrgenommenen „Rückstands“. In dieser
Orientierung waren und sind sich seit vielen Jahrzehnten übrigens ganz
divergierende Richtungen einig: die Vertreter der Tonnen-Ideologie der 1950er
Jahre, die sich an sowjetischen Maximen („Amerika überholen!“) begeisterten,
ohne die Frage nach der qualitativen Differenz technologischer und
gesellschaftlicher Innovation zu stellen, ebenso wie die Modernisierer vom
Schlag eines Deng Xiaoping oder die sich „ideologiefrei“ wähnenden
Geschäftsleute wie Zhang Chaoyang, denen das business und der Profit
über alles geht.
Einer bestimmten These zufolge bleibt die Aneignung neuer
Technologien, wie hier die Nutzung des Internet, kulturimmanenten Rationalitätsnormen
unterworfen. In gewissem Sinne handelt es sich bei der Entwicklung und
Durchsetzung des chinesischsprachigen Internetzugangs ebenso wie bei der
„Sinisierung des Computers“ einerseits um Bestandteile eines hinter dem Rücken
der Akteure sich vollziehenden Prozesses der Herausbildung neuer kollektiver
Identitäten, andererseits um die bewusste Betonung kultureller
Eigenständigkeit, um die bewusste Vorgabe des Ziels der letztendlichen
Durchsetzung einer Art Internet mit chinesischen Vorzeichen, d.h. auch mit
eigenen Kommunikationsformen in der Muttersprache. „Weil elektronische
Kommunikation Mauern ignoriert und dafür Sprache auf den obersten Rang erhebt,
taucht Sprache erneut als Prinzip der Identität auf“, um hier noch einmal mit
Kerckhove zu sprechen.
Nicht ohne Grund wird in den chinesischen Medien die neue
Errungenschaft der chinesischen Domain-Namen wegen ihrer angeblichen „Affinität
zur chinesischen Kultur“ gepriesen. Es geht dabei ganz offensichtlich auch um
die Suche nach einer chinesischen Identität und um das dieser Identität
zugrunde liegende Wertesystem. Solche Manifestationen regionaler Identitäten im
Bereich der Kultur und hier besonders der Medien sieht man allerdings nicht nur
in China oder auch ‚Greater China’ (d.h. VR China/Hongkong, Taiwan und
Singapur). So gibt es z.B. inzwischen außer chinesischen auch japanisch- und
koreanischsprachige URL-Adressen. Gescheitert ist vor diesem Hintergrund eine
Bemühung, die fast so alt wie die weltweite Etablierung des Internet ist und
davon ausgeht, dass Interoperabilität der Netze und ein einheitliches
Domainnamen-System Grundvoraussetzungen sind, um sozusagen die Einheit des
Internet zu wahren und ein Auseinanderfallen in konkurrierende Systeme und
Domänen zu verhindern. Diese Einheit sollte erstaunlicherweise auf der Basis
des Englischen garantiert werden, das die sprachliche Einheit zwischen einer
Vielzahl von Nationen (von England und den USA bis zu den anglophonen Staaten
Afrikas, der Karibik und Süd- sowie Südostasiens) bilde: „If anything“, sagte
noch 1996 George A. Keyworth, Direktor der US-amerikanischen Progress and
Freedom Foundation, “the common bonds of language, culture and religion
that tie nations together are becoming even stronger, it seems. I see no evidence that it will be different in
cyberspace.” (People and Society in Cyberspace) Dies gilt
allerdings nicht nur für das Englische, sondern auch für das Chinesische.
Keyworth übersah gewissermaßen, dass die “common bonds of
language [and] culture” auch in Asien und über Asien hinaus Sprecher des
Chinesischen in mehreren Staaten als diskursive Partner neuer,
internetgestützter Debatten „zusammenbinden“ oder in einer vielfältigen Einheit
Diskutierender und Reflektierender zusammenführen könnten, wobei die Kenntnis
von Fremdsprachen (des Chinesischen in anderen Teilen der Welt, des Spanischen,
Arabischen, Russischen, Englischen usw. seitens chinesischer Muttersprachler)
immer auch bedeuten dürfte, dass man nach Formen des Austauschs über die
Sprachbarrieren hinweg suchen wird. Die Einheit des Netzes wäre dann nicht zu
trennen von der Stärkung regionaler diskursiver Schwerpunkte, die sich in Süd-
und Mittelamerika vermutlich des Spanischen und Portugiesischen, in Ostasien
vor allem des Chinesischen bedienen würden; sie wäre darüber hinaus real im
Austausch der Kulturen und der an ihnen Teilhabenden, wobei keiner Sprache auf
Dauer das Vorrecht, „lingua franca“ zu sein, gebührt.