Fang Weigui (Trier)
Genese und Wandel des modernen chinesischen Kultur-
und Zivilisationsbegriffs
1. Die Polarität von YI und XIA
2. "Wo ist denn XIA ?!"
3. "Suche in fremden Ländern nach neuen Stimmen"
4. Wenming/Zivilisation und Wenhua/Kultur
5. China: nur half-civilized?
6. Sich dem Guten zuwenden
1. Die Polarität von YI und XIA
Im Chinesischen bezeichnete das Wort YI ursprünglich
Gegenden oder Menschen östlich von Zentralchina (Zhongyuan). Daher
hat der Begriff von Anfang an eine negative Denotation und eben solche
Konnotationen. Mit der Zeit gewann das Wort YI immer mehr Allgemeingültigkeit
und bezeichnete jetzt außer östlichen Nachbarn generell die
'Barbaren' der Peripherie - im Gegensatz zu XIA und HUA oder HUAXIA (Begriffen,
die sich beziehen auf das Reich der Mitte). Das Wort YI, das eigentlich
im abwertenden Sinne nur 'barbarische' Randbevölkerungen bezeichnete,
die jedoch noch auf dem 'chinesischen' Boden oder auch in den Vasallenstaaten
lebten, wurde seit der späten Ming-Dynastie und frühen Qing-Dynastie
nicht nur weiterhin für die Menschen rings um das Reich der Mitte,
sondern auch für die Europäer und Amerikaner benutzt, um eben
die Minderwertigkeit der anderen Menschen und Kulturen - wenn man in anderen
'Welten' überhaupt noch Kulturen zu sehen glaubte - zu unterstreichen.
Nun wurde sowohl die Intension (der Begriffsinhalt) als auch die Extension
(der Begriffsumfang) des Wortes YI erweitert, das einen bestimmten Zusammenhang
und eine globale Referenz bildet, das Eigenschaften, Bewertungen u. dgl.
bezeichnet.
Die Polarität von YI und XIA, die eine herkömmliche
Einstellung Fremden gegenüber ausdrückte, galt letztendlich als
eine anthropologische Konstante und trug bei zur Herausbildung kultureller
Codes. Für den im soziokulturellen Ambiente des Reiches der Mitte
sozialisierten 'Durchschnittsmenschen' spiegelte sich in der von den besagten
Begriffen gebildeten Binäropposition ja eine Art unumstößliche
Feststellung: Man glaubte doch sicher zu sein, daß die politische
Kultur der chinesischen Nation überragend und zugleich einzigartig
sei, daß China als Zentrum der Welt gelten müsse, daß
es außerhalb von China keinen ebenbürtigen Staat gebe. Diese
Grundeinstellung erwies sich später besonders leicht als vorurteilsvolle
Ethnozentrik, als Sperrhaltung der Xenophobie, und sie spiegelte sich dementsprechend
auch in der lexikalischen Fixierung - in dem Ausdruck YI.(1)
In den Aufzeichnungen der Sitten und Gebräuche
verschiedener Länder im Westen (1895) von Song Yuren (1857-1931)
finden wir eine lange Passage, die auf dieses Problem eingeht:
"Die ausländischen Mächte machen vereinte Anstrengungen,
um China unter sich aufzuteilen. Daß sie dabei an demselben Strang
ziehen, ist wohl nicht nur in ihren im großen und ganzen ähnlichen
Konfessionen begründet, während unser Land ganz andere Glaubensrichtungen
hat. Der Grund liegt gewißlich auch in der Diskrepanz zwischen Schein
und Sein, also zwischen Vorstellung und Realität: die Realität
ist unser riesiges Land mit reichen Ressourcen, die jedoch ungenutzt bleiben
und daher die Begierde der Westler erregen, während unsere Vorstellung
auf strenger Trennung zwischen dem Reich der Mitte und der übrigen
Welt der YI basiert. Also: China hat einen edlen Namen; in Wirklichkeit
aber ist es derart verwahrlost, daß viele Menschen auswandern, daß
nun YI mit dem schönen Namen Chinas sich nicht abfinden wollen. In
der Tat grenzt Chunqiu [Die Frühlings- und Herbstannalen] YI
und XIA ganz streng von einander ab; die Erläuterungen des Kanons
haben aber seit je her allesamt die Quintessenz dieser Unterscheidung verfehlt.
Die Fehldeutungen führen schließlich dazu, daß China seit
der Han-Zeit von einer YI-Katastrophe nach der anderen heimgesucht wurde
- bis auf den heutigen Tag. Die Unterscheidung zwischen YI und XIA im Kanon
fußt jedoch ausschließlich auf li-yi, d.h. dem Niveau
von Ethik und Ritual, nicht auf geographischer Entfernung. [...] Im Vertrag
von 1858 wurde China definitiv untersagt, in amtlichen Dokumenten und offiziellen
Schreiben für die Bezeichnung des Auslands und seiner Menschen weiterhin
das Wort YI anzuwenden. Der Vertrag bleibt zwar in Kraft, aber das Verbot
erregt Argwohn: dies zeugt von der tiefen Kluft zwischen China und dem
Ausland. Darüber hinaus zeigt es allzu deutlich: Die Gefühle
der Menschen sind im großen und ganzen gleich und die Menschen sind
stets auf ihren guten Ruf bedacht; aber in der Balgerei um Namen und Ruhm
sind wir allen anderen überlegen. Die Fremden wissen nur, daß
YI eine entwürdigende Bezeichnung ist, kennen aber nicht den Grund
dieser Minderwertigkeit. Ein Chinese weiß nur, daß XIA ein
großer Name ist, kennt aber nicht den Grund dieser Großartigkeit.
Daher stellt China wohl wegen seines prachtvollen Namens nur eine Zielscheibe
dar. Ausgehend von der Mißdeutung des Kanons richtet dies großes
Unheil an und bringt Konflikte und Kriege zwischen China und dem Ausland
mit sich. [...] Die Bücher der Weisen aber neigen weder der einen
Seite noch der anderen zu; zudem ist YI oder XIA nicht etwa Errungenschaft
des Kampfes. Es überläßt sich ja dem DAO. Und es ist wichtig,
daß man seine Grenze kennt. Nur so kann man Argwohn beseitigen und
berühmte Konfessionen respektieren. China ist in der Tat das Heimatland
der berühmten Konfessionen - ein Land, das zu verehren ist."(2) |
Vorab sei festgestellt, daß die Gründe der Konflikte
und Kriege zwischen China und westlichen Mächten höchst vereinfacht
von Song Yuren dargestellt wurden. Das von ihm angesprochene große
Unheil, also der Einbruch des Westens in das Reich der Mitte, ist bestimmt
nicht auf Mißdeutung des Kanons zurückzuführen. Sieht man
aber von diesem - natürlich sehr wichtigen - Punkt ab, weil es nicht
das Thema dieser Studie ist, und richtet man das Augenmerk auf jene Stellen,
die auf die historische Quelle des Gegensatzes von YI und XIA eingehen,
retrospektiv die Anwendung von YI und XIA betrachten und den aktuellen
Stand analysieren, so erweisen sich Song Yuren's Ausführungen als
überaus aussagekräftig und eine Schlußfolgerung daraus
kann mindestens in folgenden Punkten zusammengefaßt werden:
Zum einen liegt hier ein früher Verweis auf
ein historisches Dokument vor, das den Zeitpunkt angibt, von dem ab die
Anwendung von YI im öffentlichen Umgang mit dem Ausland verboten wurde
und das festhält, inwieweit diese Tatsache den Einwirkungen von außen
her zuzuschreiben ist: Nach dem zweiten Opiumkrieg wurden 1858 in Tianjin
zwei neue Verträge zwischen der Qing-Regierung und England auf der
einen und Frankreich auf der anderen Seite abgeschlossen. Artikel 51 des
'Tianjin-Vertrags' zwischen China und England sieht vor, daß von
nun an ein Engländer nicht als YI degradiert werden darf. Angesichts
der tradierten Soziokultur mit ihren die Bewohner der 'Peripherie' Chinas
abwertenden, nicht nur offiziösen, sondern gängigen (das Bewußtsein
der subalternen Klassen ebenfalls prägenden) Begriffen, Vorstellungen
und Einstellungen ist es wohl nur auf diese Weise möglich gewesen,
mindestens offiziell einen Schlußstrich unter den Gebrauch von YI
zu setzen. In der Tat fing man etwa um 1860 langsam an, statt YI den Terminus
YANG zu benutzen - und zwar ausgehend von Guangzhou, das die Engländer
gemeinsam mit den Franzosen 1858 erobert hatten.(3)
Wenn das Verbot des Gebrauchs von YI mehr oder weniger
ein Ergebnis der westlichen Kanonenpolitik war und uns von daher mit einer
äußeren Ursache des Sprachwandels konfrontiert, so scheint zweitens
ein sich abzeichnender Erkenntnisprozeß seitens vieler Intellekueller
eben so wichtig gewesen zu sein, was dann als innere Ursache der Wandlung
erachtet werden kann. Die ganze - oben zitierte - Argumentation von Song
Yuren hat dies veranschaulicht. Übrigens stand er mit seinem Plädoyer
zur Zeit des ausgehenden 19. Jhs., als seine Aufzeichnungen veröffentlicht
wurden, schon längst nicht mehr allein da. Mit der Öffnung des
Landes ist es nur natürlich, daß die Erweiterung und Bereicherung
des Wissens über die Außenwelt sich im Wortgebrauch und ganz
speziell auch in der Wahl des Begriffes YI bzw. YANG widerspiegeln mußte.
Bereits 1859 hielt Hong Rengan die Bezeichnung der Ausländer als YI
für eine Art 'psychologischen Sieg', der nicht einmal annähernd
der Wirklichkeit entspreche.(4) Dies hat auch Wang Tao in den 70er
Jahren des vorigen Jhs. in die Worte gefaßt: "Betrachtet man die
aktuelle politische Situation, so sind Handelsbeziehungen zwischen China
und dem Ausland eine Tatsache, die weiter bestehen wird wie die Erde. Von
daher ist es wirklich sehr realitätsfern und unzeitgemäß,
heute noch von Vertreibung und Vernichtung der YI zu sprechen."(5)
Eigentlich war diese Auffassung in der Zeit des ausgehenden 19. Jhs. bereits
keine Seltenheit mehr. Aber die Tatsache, daß Song Yuren auch in
dieser Zeit noch das Thema von YI-XIA aufgriff, sagt an sich schon sehr
viel. Um ihn noch einmal zu zitieren: "Der Vertrag bleibt zwar in Kraft,
aber das Verbot erregt Argwohn."
Drittens: Offensichtlich liegt das Anliegen und
die Intention von Song Yuren in erster Linie darin, einen großen
Irrtum als ursächlich für die Spannung zwischen YI und XIA zu
identifizieren - einen Irrtum, der anscheinend seit jeher den meisten Menschen
unterlaufen ist. Er ist daher bestrebt, im alten Geist des 'Zheng ming'
- also der Richtigstellung der Namen, als Grundbestreben des Konfuzius
- diesen Irrtum zu berichtigen. Daß selbst ein aufgeklärter
Intellektueller und Diplomat wie Song Yuren sich am Ende nicht ganz aus
dem alten Denkmodell, nach dem China als das Heimatland der berühmten
Konfessionen gilt, heraushalten kann, liegt wohl weniger an der intellektuellen
und moralischen Haltung als viel mehr an der sozialen Position des Autors,
oder auch an dem starken Druck der politischen Gegner. Es geht ja in gewissem
Sinne um eine erfolgreiche Argumentationsstrategie.
Das lange Zitat von Song Yuren, kreisend um die Opposition
von YI und XIA, wie überhaupt die ganze, von ihm knapp ins Auge gefasste
geschichtliche Realität der Verwendung dieser Begriffe, hat uns, nebenbei,
auf das anscheinend Natürlichste oder Normalste von der Welt verwiesen:
Offenbar ist es eine immer wieder zu beobachtende soziokulturelle Tendenz,
gleichsam ein anthropologisches Merkmal der menschlichen Gattung, daß
der Mensch seine eigene Praxis und deren Hervorbringungen als etwas ihn
in besonderer Weise Ausmachendes versteht, und zwar, müssen
wir hinzufügen, in Abgrenzung von dem, was Natur ist oder ausmacht
bzw. von Natur aus gegeben erscheint. In der menschlichen Praxis und
ihren Hervorbringungen gründet mithin - im weitesten Sinne - der Gegenstandsbereich
der Kategorien 'Kultur' und 'Zivilisation'. Im Gebrauch der beiden Begriffe
scheint jedoch sehr oft nicht nur das Verhältnis zwischen Mensch und
Natur auf, sondern zugleich damit auch das Verhältnis zwischen dem
Eigenen und dem Anderen (Fremden). Aus begriffsgeschichtlicher Perspektive
zeigt die chinesische Unterscheidung zwischen Yi und Xia in hohem Maße
eine Ähnlichkeit mit einem anderen, für die Entwicklung des europäischen
Kulturbegriffs konstitutiven Begriffspaar, dem von 'Barbar' und 'Grieche':
wer kein Grieche war, der war ein armer 'bárbaros'. Der Kulturbegriff
ist ein in letzter Instanz positiv besetzter Wertbegriff.
Der inhärente Nexus dieser Kategorie mit einer implizit
oder explizit gegebenen, positiven Wertung bringt nun eine interne Differenzierung
des Begriffs der Kultur mit sich, und zwar dergestalt, daß man diesen
oder jenen Personen, Personengruppen, Ethnien oder Nationen eine größere
oder geringere Teilhabe an 'Kultur', ein höheres oder niedrigeres
Kulturniveau zuspricht. Im äußersten Fall wird eine Teilhabe
an jedweder 'Kultur' sogar gänzlich negiert, wie der wirkungsgeschichtlich
bedeutsame griechische Ausdruck 'Barbar' (barbaros), von dem bereits die
Rede war, und das von ihm abgeleitete Adjektiv belegen: Termini, die vor
allem in der Neuzeit häufig als Gegenbegriffe zu 'Kultur' und 'Zivilisation'
bzw. zur Vorstellung von den 'Kultivierten' und 'Zivilisierten' gebraucht
wurden.
2. "Wo ist denn XIA?!"
Im 19. Jh., als Begriffe wie 'Kultur' und 'Zivilisation'
geradezu zu Sinnbildern des gesamteuropäischen Selbstbewußtseins,
ja sogar eines Überlegenheitsgefühls wurden, wurde in China der
Mythos, daß das 'Reich der Mitte' im Zentrum der Welt läge,
zerstört und zugleich damit das chinesische Weltbild mit seiner zentralen
Vorstellung vom Kaiser von China als dem obersten Herrscher über alle
Völker und Länder dieser Erde aus den Angeln gehoben. China ist
ja nur “shijie zhi zhongguo” (one of the world’s nations).(6)
Dieser 'großen geographischen Entdeckung' folgten noch einige weitere
wichtige 'Entdeckungen' in der zweiten Hälfte des 19. Jhs.: die Entdeckung
westlicher Technik, die der Verwaltungstheorie(n) und -praxis(formen) des
Westens, die der Staats- und Kulturwissenschaften und schließlich
sogar die des westlichen politischen Systems (in seinen unterschiedlichen
Abschattungen und Spielarten, von der Republik bis zur konstitutionellen
Monarchie). All dies hat aber wenig geholfen, das kranke 'alte China' vor
seinem Untergang zu bewahren - im Gegenteil: die nationale Krise und die
Ohnmacht Chinas gegenüber den fremden Mächten schien Tag für
Tag größer zu werden. Die "nominelle Unabhängigkeit Chinas"
blieb nur deswegen erhalten, weil sich die westlichen Mächte "nicht
über die Aufteilung des riesigen Kadavers einigen" konnten.(7)
Aber die großen 'Entdeckungen' mit ihrem damals so revolutionären
Erkenntnisgewinn bleiben nicht spurlos verschollen. Gerade in jener wechselvollen
Zeit, im Zuge einer weitestgehend von außen oktroyierten Begegnung
mit dem Westen, findet ein signifikanter Paradigmenwechsel in China statt,
der vor allem die Vorstellung von Zivilisation betrifft.
Das bis dahin nie ernsthaft angefochtene Paradigma der
ostasiatischen Zivilisation wird zuerst schrittweise, dann kompromißlos,
zuerst von den Reformern, dann von immer weiteren Kreisen vor allem der
städtischen chinesischen Gesellschaft ersetzt durch ein anderes, wonach
Zivilisation in vieler Hinsicht gleichbedeutend ist mit moderner, westlicher,
gleichsam 'auf der Höhe der Zeit' befindlicher Zivilisation, während
das eigene Erbe nicht nur ohne jede positive Bedeutung ist, sondern noch
dazu immer deutlicher ein Hindernis für jeden Fortschritt - ein Relikt
einer zu überwindenden Gesellschaft, deren man sich nur schämen
kann. Es war Lun Xun (1881-1936), einer der wenigen nüchternen Denker
jener Zeit, der 1907 in seinem Artikel "Über falsche Tendenzen in
der Kultur" nicht ohne Ironie diese Tendenz aufgezeichnet hat: "Da China
in der ganzen Welt für sein Selbstwertgefühl bekannt ist, wird
es von Leuten mit einem Hang zur Verleumdung als ignorant und halsstarrig
bezeichnet, ja man behauptet sogar, China werde selbst um den Preis seines
Untergangs an Überlieferungen und Fehlern festhalten. In letzter Zeit
hat manch einer, kaum daß er vage etwas von moderner Wissenschaft
gehört hat, sich beschämt gefühlt und die Absicht gefaßt,
sofort Reformen durchzuführen. Was nicht mit westlichen Grundsätzen
übereinstimmt, soll nicht ausgesprochen, was westlicher Methodik widerspricht,
nicht verwirklicht werden. Man könne gar nicht konsequent genug der
Tradition eine Absage erteilen. Auf diese Weise würden die Fehler
der Vergangenheit korrigiert sowie Wohlstand und Macht des Landes beflügelt.
[...] wenn Vertreter dieser Gruppe lauthals ihre Ausrufe erlassen, dann
berufen sie sich alle ausnahmslos auf die moderne Zivilisation. Wer sich
ihren Forderungen entgegenstellt, wird gar vielleicht als 'Barbar' tituliert."(8)
Lu Xun kommentiert hier - in sich bereits andeutender, kritischer Distanz
- den neuen Zeitgeist einer Umbruchsepoche, in der die Auffassung von der
selbstverständlichen kulturellen Überlegenheit Chinas abrupt
durch die außenpolitischen bzw. militärischen Ereignisse - mit
allen ihren auch innenpolitischen Rückwirkungen - infragegestellt
worden war, was die jungen, auf 'Modernisierung' setzenden Kräfte
zu einer oft scheinradikalen, kritiklosen Unterwerfung unter modische Strömungen
und Einflüsse aus dem Westen veranlaßte. Es mußte einen
kritischen Geist wie Lu Xun amüsieren, wie sie - die junge 'Elite'
eines Landes, in dem vor kurzem noch von Westlern elitär als von Barbaren
gesprochen wurde - nun das Wort Barbar als Kampfbegriff gegen ihre traditionalistischen
Widersacher (aber auch gegen fortschrittliche Kritiker einer gedankenlosen
Absorption westlicher Einflüsse) wendeten.
Fast 50 Jahre vor Lu Xun, als um 1860/61 Feng Guifen (1809-1874)
in seinem bekannten Jiaobinlu kangyi [Gewagte Ansichten aus Jiaobinlu]
über YI (also Barbaren) sprach, hatte das Wort YI bereits jene negative
Konnotation verloren, welche 'rohe, empfindungslose Menschen ohne Kultur'
meinte; der Begriff bezeichnete nun vielmehr beneidenswerte Menschen und
Länder in Europa und Nordamerika. Der Autor benutzte YI wohl nur noch
dank eines gewissen 'Gewohnheitsrechts' - und vielleicht auch aus einem
rhetorischen Grund, um nämlich durch den veränderten diskursiven
Kontext die neue Konnotation schlagartig zu verdeutlichen und so seine
Auffassung bezüglich der von ihm aufgelisteten 'vier Nicht-Ebenbürtigkeiten'
besser propagieren zu können und populär zu machen. China, so
verdeutlichen die von ihm angeführten 'Nicht-Ebenbürtigkeiten',
fällt im Vergleich zu den YI (den 'Barbaren', sprich Westlern, bzw.
dem 'Westen') in mehrfacher Hinsicht ab: "Bezüglich der Tatsache,
daß Talente nicht unbeachtet bleiben, können wir den YI nicht
gleichkommen; bezüglich der Tatsache, daß der Boden nicht 'un-nützlich'
bleibt, können wir den YI nicht gleichkommen; bezüglich der Tatsache,
daß Herrscher und Volk nicht durch eine breite Kluft getrennt sind,
können wir den YI nicht gleichkommen; bezüglich der Tatsache,
daß der Ruf der Wirklichkeit entspricht, können wir den YI nicht
gleichkommen."(9) Diese für die damalige Zeit ungewöhnlich
scharfe Kritik an der eigenen Kultur und den eigenen Verhältnissen
ist ohne weiteres anerkennenswert, wobei hier die Zustände des Westens
oder der 'YI' (wie für uns Heutige leicht ersichtlich ist) von Feng
Guifen übertrieben gerühmt worden sind. Blickt man jedoch auf
die ganze Entwicklung hinsichtlich der Modernisierungsbemühungen nach
der Öffnung Chinas zurück, kann man unschwer feststellen, daß
gerade diese emotionbeladene These sowie das darin zum Ausdruck kommende
starke Krisengefühl eine entscheidende Antriebskraft zum Streben nach
Wandel und nach Neuem, und implizit gleichsam ein wichtiges, auf ein Gleichziehen
mit dem Westen in den vier kritisierten Punkten abzielendes Postulat im
Kontext der Entstehung verschiedender Reformgedanken darstellt. Der Widerwille
von Tan Sitong (1865-1898) aus dem Jahr 1895 ist realiter wie aus einer
Form der 'vier Nicht-Ebenbürtigkeiten' gegossen: "Die Moral, Sitten,
Politik und Gesetze des heutigen China können sich in keiner Hinsicht
mit denen der Yi-Barbaren messen. Wo ist denn XIA!"(10)
Die tiefe Erschütterung jenes kulturellen Selbstverständnisses,
welches die Herrschaft der traditionellen 'gesellschaftlichen Eliten' jahrhundertelang
legitimiert und die Dominanz Chinas auf dem ostasiatischen Festland widergespiegelt
hatte, kam in der Tat letztlich vor allem von außen. Überblickt
man den Wandel und die Entwicklung der chinesischen Geistesgeschichte zwischen
1840 und 1900, so kann man ohne große Schwierigkeiten feststellen,
daß es sich bei der einsetzenden chinesischen Kritik der in der eigenen
Gesellschaft vorgefundene Zustände und Verhältnisse und bei den
davon abgeleiteten Reformvorhaben vor allem um Reaktionsbildungen auf die
westlichen Penetrations- und Annektionsversuche handelt und daß die
Abwehr des westlichen Ansturms - mit ihrem Bemühen um Anpassung an
radikal neue Erfordernisse - die entscheidende Antriebskraft der innerchinesischen
Entwicklung in jener Zeit darstellte. Fast alle neuen Ideen und Strömungen
fußten auf dem Erkennen der Krise, auf dem Erwachen vieler Intellektueller
- dies in einer Zeit, die in der westlichen Geschichtsschreibung oft als
'treaty system' dargestellt, in China jedoch als Zeit der 'ungleichen Verträge'
bezeichnet wird. Die Entdeckung der neuen, veränderten Situation,
die die Chinesen dazu zwang, sich entsprechend diesen unvorhergesehenen
Umständen einzurichten, war eine wichtige Prämisse für verschiedene
Diskurse der erwachenden Intellektuellen. Von daher sind die erwähnten
sechzig Jahre eine historisch entscheidende, gleichsam einzigartige
Übergangszeit, in der unter westlichem Einfluß die 'neuzeitlichen'
Ideen Chinas sich zusammenbrauten.(11) In dieser großartigen
Entdeckungszeit
haben die Vordenker und Reformer im Zusammenhang und Zusammenspiel – um
nicht zu sagen, in Wechselwirkung - mit dem 'Xixue', also dem 'westlichen
Wissen', nicht nur neue Begriffe wie 'Demokratie', 'Freiheit', 'Gleichheit',
'Menschenrechte', 'Parlamentarismus', 'Sozialismus' usw. den Chinesen näherzubringen
versucht; sie haben auch nicht nur unter Bezugnahme auf das gerade neu
kennengelernte 'Völkerrecht' ausdauernd die Ungerechtigkeit der seitens
der Westmächte durchgesetzten 'Exterritorialität' - also der
westlichen Souveränitätsrechte auf chinesischem Boden - hervorgehoben
und entsprechend nach der territorialen Souveränität Chinas verlangt.
Die darüber hinaus vollbrachte Pionierleistung vieler spät-kaiserlicher
Intellektueller ist evident und besteht - abgesehen von der Vorstellung
neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse - hauptsächlich darin,
daß durch ihre Bemühung eine feste und breite Basis für
die adaptierende bzw. den eigenen Bedürfnissen gemäße,
verändernde Übernahme westlichen Gedankenguts einerseits und
für den erneuernden, intellektuellen Schaffensdrang andererseits produziert
wurde - realisiert mehr oder weniger durch eine Politik der offenen Tür
im Geistesleben, ohne die später die 4.-Mai-Bewegung mindestens nicht
in der gekannten Form vorstellbar wäre.(12) Das Erwachen der
Intellektuellen in der spät-kaiserlichen Zeit erwies sich als richtungweisend
und das Ergebnis läßt sich vielleicht am ehesten dergestalt
zusammenfassen, daß der damit real gewordene Drang nach Horizonterweiterung
und nach Erkenntnissen, welche die traditionellen Fesseln sprengten und
welche in der Folge einen 'spread'-Effekt mit sich brachten, de facto den
'Dünkel' der damals in eine tiefe Krise gestürzten chinesischen
Kultur (wie er vor allem in den gesellschaftlich dominanten Schichten emotional
und intellektuell präsent war) ein für alle Mal als überholt
abgestempelt hat.(13)
3. "Suche in fremden Ländern nach neuen Stimmen"
Die Beziehungen zu den westlichen Staaten wurden im Laufe
des 19. Jhs. immer antagonistischer. Der Schock der Niederlagen - im Opiumkrieg
von 1839/42, dann 1895 im Krieg gegen Japan, und zuletzt die Erniedrigung
im Zuge der westlichen Intervention gegen die 'Boxer' (1900) - hatte ohne
Frage einen katalysatorischen Effekt und bewirkte, daß zumindest
wache Köpfe, mehr und mehr aber auch die einfache Bevölkerung,
China und seine 'überlegene' Zivilisation mit anderen Augen sahen.
Obwohl in den letzten 60 Jahren des 19. Jhs. die Macht der traditionellen
Ideologie alles andere als von der Bühne der Geschichte abgetreten
ist - es war ja die Tradition, die letztendlich die Basis für die
Bemühungen um Anpassung an die neue Lage bildete -, war unverkennbar
eine andere, mit dem Schlagwort der allmählichen 'Verwestlichung'
nur grob und undialektisch, dafür aber um so wirkungsvoller bezeichnete
Richtung eingeschlagen worden. Man kann anhand der historischen Quellen
belegen, daß es im Zuge des Kontakts mit dem Westen nach und nach
zu vielfältigen und komplexen kulturellen Reaktionen kam: die Erscheinungsformen
dieser Reaktionsbildungen reichten von einer verstärkten Bereitschaft
zur Abschottung bei gleichzeitigem kompensatorischen Stolz auf die eigene
Kultur sowie von Versuchen, gleichsam einen technischen (vor allem militärtechnischen)
Vorsprung des Westens wettzumachen, ohne die eigene - mit der veralteten
Tradition identifizierte - kulturelle 'Identität' preiszugeben, bis
hin zu einer enthusiastischen Weltoffenheit und einer Bereitschaft, Hals
über Kopf die 'allochthone' Kultur, nicht nur ihre Wissenschaft und
Technik, als Inbegriff aller 'modernen' Kultur überhaupt zu rezipieren
und fortzuführen.(14) So sehen wir im Diskurs über die
Modernisierung Chinas immer wieder, daß man die Verwestlichungstendenz
nicht nur mit der Stärkung des Landes verband, sondern auch zur Legitimation
der Verwestlichung die ganzen darauf abzielenden Bemühungen mit daotong,
d. h. mit der konfuzianischen Orthodoxie in Einklang zu bringen suchte.
Für Wang Tao (1828-1897) sind "die westlichen Methoden die einzigen,
um damit eine starke Armee aufzubauen und das Land reich und mächtig
zu machen. [...] Lebte Konfuzius in der heutigen Welt, würde er ebenso
dafür eintreten, die westlichen Methoden für die Produktion von
Schiffen und Fahrzeugen, Gewehren und Kanonen sowie Maschinen zu übernehmen".(15)
Guo Songtao (1818-1891) schwört sogar auf die legendären vordynastischen
Herrscher: "Lebten Yao und Shun heute noch, würden sie nicht einen
Tag mit der Verwendung westlicher Methoden zögern."(16) Eine
ähnliche Position vertritt Tan Sitong, der für Veränderungen
bezüglich der chinesischen Ethik, der Wissenschaften, ja sogar der
Kleidung plädiert: "Der Zhou-Herrscher und Konfuzius würden auf
keinen Fall mit unseren heutigen Methoden die heutige Welt regieren."(17)
Die radikalste Meinung artikulierte sich 1898 in der Äußerung
eines Fan Zhui (1872-1906): "Die Überlieferung restlos abschaffen
und alles nur nach Westlichem ausrichten."(18)
Der Kultur- und Zivilisationsbegriff ist, als das 19.
Jh. zuendegeht, fraglos nach wie vor von den Traditionalisten besetzt.
Diese Konservativen behaupten immer noch eine Überlegenheit der in
Fragen der sozialen (oder 'Stände'-) Ordnung, der Organisation des
Staates, aber auch der innerfamiliären Hierarchie alles entscheidenden
konfuzianistischen Weltanschauung und betonen deren Gültigkeit und
Effizienz im Alltag;(19) sie konzedieren aber z. T. eine -
schädliche und daher aufzuhebende - Unterlegenheit gegenüber
der barbarischen westlichen Kultur, vor allem in der Technik und den Naturwissenschaften.
Mitten in der Modernisierungsbewegung (yangwu yundong) oder Selbststärkungsbewegung
(ziqiang yundong) veröffentlichte Xue Fucheng (1838-1894), eine bedeutende
Persönlichkeit im Kontext dieser Bemühungen, im Jahr 1885 seine
Aufsatzsammlung Chou yang chuyi [Meine bescheidenen Ansichten über
die Modernisierung], die im Jahr 1879 vollendet wurde. Die Essenz des Ganzen
findet sich ohne Zweifel in dem wichtigsten Artikel der Sammlung ausgedrückt,
in "Bianfa lun" [Über die Reform]. Unter den Yangwu-Protagonisten
war Xue Fucheng der erste, der das Banner der 'Reform' erhob. Angesichts
einer Weltlage, bei der "der Westen in Führung liegt", plädierte
er für eine Reform vor allem technischer und auch organisatorischer
Art: "Wir müssen Handel und Bergbau betreiben; denn ohne einen Wandel
einzuleiten, bleiben wir arm und die anderen reich. Wir müssen Maschinen
und Geräte sorgfältig bauen; ohne Wandel bleiben wir ungelenk
und die anderen flink. Wir müssen die Einführung von Eisenbahn,
Dampfer, Telegraphie in Angriff nehmen; ohne Wandel bleiben
wir langsam und die anderen schnell. Wir müssen
Regeln und Satzungen aufstellen, Talente fördern, das Militärsystem
und die Aufstellung von Truppen optimieren; ohne Wandel bleiben wir schlaff
und schwach, die anderen einträchtig und stark."(20) Dies
ist exakt die Folie, vor der bereits in den achtziger Jahren des 19. Jhs.
die frühen reformistischen Schriften die Idee verbreiten: zhong xue
wei ti, xi xue wei yong - was so viel heißt wie 'die Lehren Chinas
als Grundlage (Substanz) nehmen, die Lehren des Westens für den praktischen
Gebrauch' [über-] nehmen. Dieses mit den gemäßigten
Konservativen geteilte, auf 'dem chinesischen Wesen' insistierende frühe
Reformkonzept erweist sich allerdings bereits angesichts der im chinesisch-japanischen
Krieg 1894/95 erlittenen, demütigenden Niederlage als untauglich.
"Selbst wenn Waffen etwas auszurichten vermöchten, wie behauptet wird,
was nützten sie in großer Zahl einem schwachen Volk?"(22)
- so begann man zu fragen.
In Intellektuellenkreisen erkannte man sehr bald, daß
nur tiefgreifende gesellschaftspolitische Reformen China retten konnten.
Dies ist die Zeit, in der die oppositionellen Gebildeten wie Kang Youwei
(1858-1927) und Liang Qichao (1873-1929) tatkräftig Reform und 'die
neuen Wissenschaften' (xinxue) propagierten.(23) Als erster übersetzte
nun Yan Fu (1854-1921) eine ganze Reihe (bürgerlicher) gesellschaftstheoretischer
Werke Europas.(24) Die Anstrengungen der frühen chinesischen
Aufklärer dieser Epoche und die ganze von ihnen ausgelöste 'Modernisierungsdebatte'
laufen schließlich darauf hinaus, daß es von den wachsten Geistern
immer deutlicher als entscheidend begriffen wird, sich von den überlebten
Strukturen zu lösen und auf der Grundlage 'europäischer' Gedanken
wie Freiheit und Gleichheit eine neue Moral, eine neue Einstellung und
einen neuen Geist in China Fuß fassen zu lassen.
Streben nach Wandel und nach Neuem - darin besteht
nun in zunehmendem Maße das gemeinsame Moment im Bewußtsein
fast aller Reformer nach der Öffnung Chinas. "Suche in fremden Ländern
nach neuen Stimmen"(25) war ein allgemeines Phänomen. Die Reformanregungen
und -konzepte, angefangen bei Feng Guifen und bis hin zu Kang Youwei und
anderen, sind jedoch ohne Ausnahme partiell und beschränkt. Wenn auch
Kang Youwei in seinen verschiedenen Denkschriften an den Thron Reformen
der Politik und Wirtschaft, des Militär- und Erziehungswesens berücksichtigt
hat, geht es dort hauptsächlich nur um konkrete Vorschläge und
weniger um einen radikal reformerischen ideellen Gehalt. Der erste, der
in der modernen Geistesgeschichte Chinas an einen 'totalen Wandel' denkt
und dafür eine Lanze bricht, ist Liang Qichao - zuerst in der von
ihm, Huang Zunxian (1848-1905) und Wang Kangnian (1860-1911) gegründeten
«Die Zeit» (Shiwu bao, 1896). Die Idee des 'totalen Wandels'
ist ohne weiteres von seiner Kenntnis jener neuzeitlichen und modernen
Zivilisation des Westens abgeleitet, die selbst seit der Renaissance sowie
im Zuge der Aufklärung eine tiefgreifende, umfassende Wandlung erfahren
habe, dermaßen, daß "eine neue Welt entstanden ist".(26)
Angesichts der neuen weltweiten Entwicklung gebe es daher keine Alternative
mehr zur Reform.(27) Aufgrund der gleichen Erkenntnis schrieb er
1902 in dem Artikel "Erläuterungen zu Reform und Revolution" (Shi
ge): "Sie [d. h. die reformerische Politik] wird auf keinen Fall wirksam,
wenn man denkt, daß es im heutigen China bereits mit der Reform von
ein paar Nebensächlichkeiten getan sei und dies schon Nachahmung europäischer,
amerikanischer und japanischer Reformen bedeute. Die anderen haben ja alle
große Reformen bzw. eine große Revolution durchgemacht."(28)
In demselben Text und eben im Sinne der 'großen Revolution' hat er
die These von der Notwendigkeit einer "totalen Umwandlung des Volks" (guomin
biange) aufgestellt,(29) und zwar als Schwerpunkt und
Ziel der 'großen Revolution'. Dies ist der Kern des von ihm in die
Wege geleiteten, ambitionierten Projektes der Erziehung der Massen zur
geistigen und politischen Reife - eine Aufgabe, die übrigens (selbst
wenn Liang Qichao das nicht wissen konnte) auch im Westen immer noch ihrer
Bewältigung harrt.
4. Wenming-Zivilisation und Wenhua-Kultur
Bereits in der Zeit des Erasmus - im durch zunehmend säkulare
und humanistische Tendenzen gekennzeichneten 16. Jahrhundert also – erfuhr
in Europa der anachronistisch gewordene, traditionelle (das heißt,
im Kern noch mittelalterlich-christliche) Kulturbegriff eine drastische
Uminterpretation. Es ist unbestreitbar, daß davon nicht zuletzt starke
Impulse auf eine ganz neu verstandene Bildung und Wissenschaft ausgingen.
Der moderne, umfassende Kulturbegriff jedoch, der im wesentlich noch immer
grundlegende Gültigkeit beanspruchen kann, ist in Europa erst in der
zweiten Hälfte des 18. Jhs. entstanden. Seinen kategoriellen Ausdruck
findet er im Deutschen in dem sehr alten, von seinem lateinischen Vorläufer
'cultura' abgeleiteten Begriff 'Kultur'; im Französischen und im Englischen
dagegen figuriert an seiner Stelle die Neubildung 'civilisation'. Sowohl
der eine wie der andere Begriff umgreift semantisch die Totalität
menschlicher Praxis, ob es sich nun um Selbstveränderung (bzw. Selbsterziehung
oder auch Selbstverwirklichung) handelt, oder aber um gesellschaftliche
(den bzw. die Anderen und die Natur) verändernde Praxis.
Mitgedacht erscheint die kulturelle Praxis wie auch ihre
Resultate, faßbar in den verschiedensten Erscheinungsformen: der
des kultivierten Menschen, jener der kultivierten Natur, nicht zuletzt
jener der hervorgebrachten und nun zur Hand seienden, im Kulturprozeß
einsetzbaren Kulturprodukte. Die diversen Aspekte des hiermit komplex abgedeckten,
sehr weiten semantischen Bereichs traten natürlich im 18. Jahrhundert
nicht erstmals ins Bewusstsein. Sie waren in der Regel schon früher
in anderen Kontexten und unter Zuhilfenahme anderer Termini Gegenstand
der Reflexion gewesen.(30) Im Chinesischen sind 'wenming' (heute
verstanden als Zivilisation) und 'wenhua' (verstanden als Kultur) keine
Neologismen. Man findet die beiden Begriffe bereits in den frühen
klassischen Texten wie Zhou-yi und Shu-jing. Die Entstehung
und vor allem die Verbreitung eines modernen, umfassenden Kultur-
und Zivilisationsbegriffs in China erfolgte jedoch in tiefgreifender, erhebliche
Spuren hinterlassender Weise - beeinflußt vom westlichen Vorbild
und, gemessen an der europäischen Aufklärung, mit einer Verzögerung
von gut hundert Jahren (31) - erst im ausgehenden 19. Jahrhundert.
Insbesondere um die Jahrhundertwende war es der Zivilisationsbegriff 'wenming',
welcher plötzlich en vogue war und das Verlangen nach Adaptation,
nach akkulturierender Aneignung des westlichen Zivilisationsmodells widerspiegelte.
Etwas später, in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, erlangte
dann der Begriff 'wenhua' , verstanden im modernen Sinne von 'Kultur',
allgemeine Verbreitung.(32)
Der japanische Historiker Ishikawa Yoshihiro hat 1995
in Garchy auf der "Conference on European thought in Chinese literati culture
in the early 20th century" einen dem Thema dieser Studie ähnlichen
Vortrag gehalten: "Discussions about 'culture' and 'civilization' in modern
China". Für ihn ist die Verbreitung des modernen Wenming-Begriffs
in China vor allem Liang Qichao zu verdanken; von entscheidender Bedeutung
sei dabei ein Text desselben aus dem Jahr 1896: "Lun Zhongguo yi jiangqiu
falü zhi xue" [Plädoyer für den Aufbau der Rechtswissenschaft
in China]. Ishikawa zufolge enthält dieser Text von Liang Qichao genau
jene Passage, wo der chinesische Wenming-Begriff im heutigen Sinne zum
ersten Mal erscheint.(33) Diskutiert man nur darüber, mit welchem
Wort man 'civilization' ins Chinesische übersetzte, oder welches Wort
seinerzeit als Äquivalenz zu 'civilization' betrachtet wurde, muß
man sagen, daß man meines Wissens mindestens 60 Jahre früher
als Liang Qichao bereits mit 'wenming' den Begriff 'civilization' ins Chinesische
übersetzte, und zwar in der Zeitschrift EASTERN WESTERN MONTHLY MAGAZINE
(darauf werde ich noch zurückkommen). Wenn man aber 'culture' [Kultur]
und 'civilization' als einen Begriff auffaßt und dementsprechend
nach der frühen Rezeption und Erkenntnis dieses Begriffs in China
fragt, ist ebenfalls festzustellen, daß die Meinung von Ishikawa
nicht greift. Ohne Zweifel ist es von großer Bedeutung, was für
ein Wort man bei der Übersetzung wählt bzw. als Pendant zu einem
fremden Begriff nimmt. Noch wichtiger ist jedoch das Erfassen des Begriffs
an sich. Ishikawa weist u.a. darauf hin, daß sowohl 'wenming' als
auch 'wenhua' nicht auf dem autochtonen Boden Chinas entstanden sind, sondern
von Japan importiert und letztlich "in Japan produziertes Chinesisch" sind.(34)
(Meines Wissens vertreten nicht wenige Forscher diese Auffassung.) Ishikawa
verweist auf den Einfluß des Werkes Das Wesen der Zivilisation
(1875) des japanischen Aufklärungsphilosophen Fukuzawa Yukichi (1835-1901)
auf Liang Qichao und behauptet, Liang Qichao's Ausführungen über
Zivilisation (wie z.B. "Ziyou lun" [Über die Freiheit] oder "Guomin
shi da yuanqi lun" [Über zehn wichtige Charakterzüge des Volks
oder Der Geist der Zivilisation]) seien Liang Qichao'sche Ausgabe von Das
Wesen der Zivilisation.(35) Damit möchte Ishikawa in erster
Linie belegen, daß der 'wenming' Begriff "aus Japan importiert werden
mußte".(36)
Es ist allgemein bekannt, daß im modernen Chinesisch
nicht wenige Äquivalente fremder (westlicher) Begriffe tatsächlich
"in Japan produziertes Chinesisch" sind. Die endgültige Durchsetzung
von 'wenhua' und 'wenming' als Übersetzung des modernen Kultur- und
Zivilisationsbegriffs ist in der Tat mehr oder weniger von Japan beeinflußt.
Wie groß aber dieser Einfluß ist, und schließlich auch
(und vor allem), woher der moderne chinesische Zivilisationsbegriff eigens
importiert worden ist, diese Fragen erweisen sich als komplizierter als
man sich allgemein vorstellt. Eins sei aber vorab festgestellt: Der Begriffsinhalt
kommt aus Japan, noch mehr aber aus dem Westen. In gewissem Sinne haben
jedoch autochtone Faktoren eine große Rolle gespielt im Blick auf
die Verbreitung des modernen westlichen Zivilisationsbegriffs in China.
Wenn 'Kultur' und 'Zivilisation' im 19. Jh. primär ein - wenngleich
national getöntes - europäisches Selbstbewußtsein zum Ausdruck
bringen, das Bewußtsein, gemeinsam an der Spitze einer umfassenden
weltgeschichtlichen Fortschrittsbewegung zu stehen, so ist die Verbreitung
und Popularisierung des Zivilisationsbegriffs in China letztendlich ein
Ergebnis der Identitätskrise und Selbstreflexion der Chinesen.
Der alte chinesische Kulturbegriff (mit seinen verschiedenen
Ausdrucksweisen und Binnendifferenzierungen) zeigt eine Aufspaltung, die
noch komplexer ist als die in den europäischen Sprachen vorgefundene.(37)
In begriffsgeschichtlicher Perspektive lagen – trotz aller ideologischen
Polemiken des späten 19. und frühen 20 Jahrhunderts - der deutsche
Kultur- und der französische oder englische Zivilisationsbegriff zunächst
nicht sehr weit auseinander. Gemeinsam ist ihnen zum einen die Betonung
des prozessualen Charakters, geht es doch um menschliche kultivierende
bzw. kulturelle Tätigkeit. An diesen frühen semantischen Kern,
bei dem es um den Vorgang der Kultivierung des Menschen und seiner Umwelt
geht, schließt sich in der Folge eine zweite Bedeutung, nämlich
eine vom semantischen Ausgangspunkt abgeleitete Bedeutungserweiterung an:
man denkt nun die Ergebnisse der kultivierenden Tätigkeit mit; die
Rede ist also vom kultivierten Menschen und schließlich auch von
der Gesamtheit der Kulturprodukte.
Mit dem Begriff der 'Kultur' (bzw. Zivilisation) kann
man nun sowohl 'Kultivierung' als auch verwirklichte 'Kultiviertheit' meinen,
wobei diese Aspekte sich berühren und ineinander übergehen. Was
diesem Kulturbegriff zur Durchsetzung verhalf und zugleich seine weitere
inhaltlichen Entfaltung begünstigte, war seine historische und zugleich
auch grundlegende geschichtsphilosophische Verankerung.
Die Geschichte des Begriffs im 19. und 20. Jahrhundert
ist dann in der Folge geprägt von einem weiteren semantischen Wandel,
bei dem seit etwa 1880/1900 mindestens zeitweise sehr stark der Akzent
in die Richtung einer ideologischen Betonung einer hypostasierten Kultiviertheit
der Europäer und ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse verschoben
wurde. Die Kultiviertheit der Europäer bildete gleichsam ihre zweite
Natur. Es ist nur natürlich, daß damit die fortschrittliche
Betonung des Prozesscharakters und damit des Zusammenhangs von menschlicher
Praxis und Kultur noch stärker in den Hintergrund trat. Die vorherrschende,
verdinglichende Sicht führt zur auftrumpfend 'universalistischen'
Beschwörung einer - die spezifischen geschichtlichen Beiträge
der Völker der Welt als Anachronismen und nur noch ethnologisch interessante
Folklore – beiseiteschiebenden, vorgeblich alleingültigen, europäisch-westlichen,
modernen 'Kultur' und 'Zivilisation'. Der rationale Kern dieser Auffassung
ist die Einsicht, daß die Kultur bzw. Zivilisation in umfassender
Weise sämtliche Aspekte des modernen Leben umgreift: die moderne Gesellschaft
mit ihrem Staatsapparat und seiner rechtlichen Verfaßtheit, ihren
wirtschaftlichen Verhältnissen, die Wissenschaften und die Technostruktur,
Philosophie, Moral und Religion sowie nicht zuletzt die Künste. Die
Würdigung der materiellen Sphäre, wie sie die Begriffe Zivilisation
und Kultur im europäischen Kontext verkörperten, sollte jedoch
bald schon durch einen spezifisch deutschen Diskurs infragegestellt werden.
Man muß sich im klaren sein, daß es letztlich ein Ausdruck
des Ressentiments war, der in Deutschland jenen bornierten und elitären
Kulturbegriff hervorbrachte, welche die materielle Sphäre als minderbedeutend
auszuschließen trachtete. Es ist Norbert Elias, der auf die lange
Zeit gängige, und noch immer im Sprachgebrauch nachklingende deutsche
Abwertung des Begriffs der Zivilisation zugunsten eines nun auf 'das
Geistige' eingeengten Kulturverständnisses hingewiesen hat: "Im deutschen
Sprachgebrauch bedeutet 'Zivilisation' wohl etwas ganz Nützliches,
aber doch nur einen Wert zweiten Ranges, der nämlich die Oberfläche
des menschlichen Daseins umfaßt. Und das Wort, durch das man im Deutschen
sich selbst interpretiert, durch das man den Stolz auf die eigene Leistung
und das eigene Wesen in erster Linie zum Ausdruck bringt, heißt ‘Kultur’."(38)
Wenn man dagegen von 'civilisation' im Französischen
spricht, auch wenn man nicht gerade 'la (grande) civilisation française'
sagt, so ist das in der Regel nicht abwertend und meint nicht 'das bloß
Nützliche'.
Ähnlich im Englischen. Das Konzept der 'civilisation' steht mindestens
gleichwertig neben dem Begriff der Kultur, und nähert sich sogar semantisch
dem Begriff der Kultur an - und zwar einem Kulturbegriff, der die geistige
wie die materielle Kultur umschließt. Letztlich ist dieser
als historisch verstandene, durchaus materialistische Kulturbegriff der
souveränere. Die deutsche Rückständigkeit der materiellen
Zivilisation (im Vergleich zu Frankreich und England), wie sie über
weite Strecken des 19. Jahrhunderts unbezweifelbar bestand, wurde durch
den idealistischen Verweis auf die kulturelle Größe, die man
im Kopf mit sich herumtrage, kompensiert. Daß das Materielle das
'mindere' ist, erscheint so fürwahr als ein charakteristischer Zug
der deutschen Ideologie. Die Trennung der konfuzianistischen Intellektuellen
von der Handarbeit (und mehr noch ihre Verachtung der Handarbeit), die
sexualfeindliche Prüderie und Verlogenheit des Konfuzianismus, die
Abkehr von der Sinnlichkeit des wirklichen, alltäglichen Lebens usw.
mögen dem Kulturverständnis der vormodernen chinesischen ‘Eliten’
eine ähnliche - das Materielle, Äußerliche und Objektive
auf Positionen minderen Werts delegierende - Tendenz einbeschrieben haben
wie dies in der deutschen Debatte um Kultur und Zivilisation der Fall war.
Allgemein gesagt haben die Chinesen bis zum Ende des 19.
Jahrhunderts kaum etwas von dem westlichen Kultur- und Zivilisationsbegriff
als solchem erfahren. Nicht wenige von jenen wichtigen zweisprachigen Lexika
und Wörterbüchern, die von den in China lebenden Europäern
seinerzeit verfaßt oder herausgegeben wurden, führen das Stichwort
'Kultur' oder 'Zivilisation' überhaupt nicht; so z. B. A DICTIONARY
OF THE CHINESE LANGUAGE (Part the Third, English and Chinese) von
Robert Morrison (1815/22);(39) AN ENGLISH AND CHINESE VOCABULARY
von S. Wells Williams (1844);(40) DICTIONNAIRE FRANÇAIS-LATIN-CHINOIS
von Paul Perny (1869).(41) A VOCABULARY AND HAND-BOOK OF THE CHINESE
LANGUAGE (Part First, English and Chinese) von Justus Doolittle
(1872)(42) enthält nicht das Stichwort 'Civilization'; unter
dem Stichwort 'Culture' heißt es: literary; act of self. Das ENGLISH
AND CHINESE DICTIONARY von W. Lobscheid (1866/69), das allem Anschein nach
die Definitionen und Übersetzungen von 'Kultur' und 'Zivilisation'
in den zweisprachigen Wörterbüchern aus der zweiten Hälfte
des 19. Jhs. beeinflußt hat, behandelt 'Civilization' als "the act
of civilizing" und "the state of being civilized". Unter 'Culture' registriert
Lobscheid "the culture of rice; the culture of virtue; the culture of right
principles; the culture of letters".(43) Wie in den meisten europäischen
Lexika und Wörterbüchern auch des 19. Jhs. wird hier die landwirtschaftliche
Bedeutung an erster Stelle genannt. Im wesentlichen ist es also noch der
frühneuzeitliche Kulturbegriff der Kultivierung [des Bodens, also
Landbau] sowie der Ausbildung von Fähigkeiten des Individuums. Der
kultivierte Zustand oder gar die Kulturprodukte werden nicht angesprochen.
Nicht uninteressant ist die Definition von 'civilization':
Im Englischen setzte sich 1775 eine neue Form der Definition von 'civilization'
im Wörterbuch von Ash durch: the state of being civilized, the act
of civilizing,(44) wonach der Zustand vor den Vorgang gestellt wurde.
Offensichtlich stammt Lobscheid's Stichwort - wortwörtlich - von Ash,
jedoch mit einer großen Änderung der Reihenfolge: die einmal
umgestellte Komponenten werden noch einmal zurückgestellt. Was in
diesen Wörterbüchern (wohl auch für die damalige Leserschaft)
auffällt, ist eine Art Unschlüssigkeit der chinesischen Übersetzung
beider Begriffe, die wegen mangelnder normativer und deskriptiver Aspekte
das Verständnis eines so wichtigen Geschichts- und Fortschrittsbegriffs
und damit eine entsprechende Rezeption beeinträchtigt. Übrigens
kann vermutet werden, daß bis zum Anfang des 20. Jhs. viele zweisprachige
Wörterbücher in China in bezug auf 'Zivilisation' und 'Kultur'
wahrscheinlich Lobscheids Version als Vorbild genommen haben, wie z. B.
AN ENGLISH AND CHINESE STANDARD DICTIONARY (1910), hier jedoch mit einem
deutlichen Hinweis auf den wichtigsten Gegensatz zu 'Zivilisation' und
'Kultur'; dies ist 'Barbarei' und 'Wildheit': "from barbarism to civility",
"the cultivation of savages".(45) Meistens - selbst in den ersten
Jahrzehnten des 20. Jhs. - beschränken sich viele zweisprachige Wörterbücher
nur auf Übersetzungen, die alles andere als einheitlich sind.(46)
Daß die Lexika und Wörterbücher weit hinter der Rezeption
des westlichen Kultur- und Zivilisationsbegriffs in China zurückbleiben,
zeigen die folgenden Beispiele: In XIN ERYA (1903)(47) und
PUTONG BAIKE XIN DA CIDIAN (1911),(48) die ziemlich viele westliche
Begriffe anführen, fehlen die Stichwörter 'Kultur' und 'Zivilisation'
überhaupt. Sogar BAIKE MINGHUI (49) aus dem Jahr 1931 kennt 'culture'
nicht, übersetzt 'civilization' als "wenhua" - das heutige chinesische
Pendant zum Wort 'culture'.
In Wirklichkeit hat man bereits in DONG XI YANG KAO MEIYUE
TONGJIZHUAN/EASTERN WESTERN MONTHLY MAGAZINE (1833-1838), der ersten Zeitschrift
in der modernen chinesischen Geschichte, mit 'wenming' den westlichen Zivilisationsbegriff
übersetzt; so etwa in dem Text "Falanxiguo zhilüe" [Kurze Aufzeichnung
Frankreichs]: "Die Gründung des Staates gewährt den kommenden
Generationen Glück. Die Verbreitung der 'wenming ' [Zivilisation]
läßt das Christentum weiter glänzen."(50) Der zweite
Satz erscheint fünf Mal in der ganzen Zeitschrift,(51) wobei
'wenming' immer nur zusammen mit "Glanz des Christentums" benutzt wird.
Die Verbindung zwischen 'Zivilisation' und 'Christentum' läßt
uns ohne großes Problem feststellen, daß hier der alte chinesische
Begriff 'wenming' als Äquivalenz und Übersetzung der Kategorie
'Zivilisation' herangezogen wurde. Noch vor der Popularisierung eines aufklärerischen
Kultur- und Zivilisationsbegriffs in Europa war schon in der christlichen
Anschauung die westliche Zivilisation in letzter Instanz als eine christliche,
und das Christentum als Kern der westlichen Zivilisation betrachtet worden.
Als dann seit Ende des 18.Jh. der moderne, säkularisierte Zivilisationsbegriff
sich im Westen weithin durchzusetzen begann, wurde dann auch – und zwar
bereits bei Rousseau - der mit 'Zivilisation' verbundene Fortschrittsoptimismus
infragegestellt. Vor allem die einsetzende Industrialisierung ließ
eine Reihe von Zeitgenossen von den Schattenseiten des Fortschritts sprechen,
nicht zuletzt in politisch-sozialer und ökologischer Hinsicht. Die
aufkeimende Kritik an der sich selbst glorifizierenden modernen westlichen
Zivilisation (oder Kultur) geschah gewiß im Namen einer vorgestellten,
wahreren oder humaneren Kultur: Nicht nur romantische Skeptiker, die in
den vermeintlichen Naturmenschen des Südens die wahreren Menschen
sehen, kommen jetzt zu Wort, sondern auch Apologeten der katholischen Kirche
wie Lammenais oder Frédéric Le Play. Gerade bei einigen der
katholischen Autoren des 19. Jh. bemerkt man die Tendenz, den von den Fortschrittseuphorikern
als zentrale Kategorie verstandenen Begriff der 'civilisation’ im Sinne
einer diskursiven Strategie des 'den Spieß Umkehrens' für ihre
Position in Beschlag zu nehmen oder – wie heute zu sagen pflegt - zu 'besetzen'.
Seither figurieren in katholischen (und diesen benachbarten) Diskursen
[– bis hin zu der kürzlichen, diesbezüglichen Erklärung
des italienischen Ministerpräsidenten –] immer wieder Wendungen wie
'christliche Zivilisation' ('civilisation chrétienne' ) und 'abendländische
Kultur'.(52) Vor diesem, im Westen bis heute in unterschiedlicher Form
nachwirkenden, historischen Hintergrund ist die Verbindung des Begriffs
'Zivilisation' mit der Vorstellung 'christliche (bzw. katholische) Religion
und Kirche' in DONG XI YANG KAO – einer Zeitschrift, die von den in China
lebenden ausländischen Missionaren herausgegeben wurde, wobei die
veröffentlichten Beiträge in der Hauptsache auch von Missionaren
verfaßt waren – eine selbstverständliche Erscheinung. Gerade
weil man immer wieder den Zusammenhang zwischen dem Verdienst der Kirche
und der 'Zivilisation' hervorhebt, kann "wenming" in dieser Zeitschrift
als eine der ersten chinesischen Übersetzungen des Begriffs der 'Zivilisation'
(wenn nicht die erste) gelten. Ohne Zweifel hat man in DONG XI YANG KAO
realiter die christliche Zivilisation verbreitet, während die Menschen
des 19. Jahrhunderts im Westen im allgemeinen den Ablauf der Geschichte
neu und losgelöst von der theologischen Tradition denken und mit 'Zivilisation'
und 'Kultur' alle Lebensbereiche, materielle wie geistige, zu erfassen
suchen. DONG XI YANG KAO hat, obgleich sie den Chinesen nur eine beschränkte
Zivilisationsvorstellung zugänglich gemacht hat, eine ganze Reihe
von Aspekten westlichen Wissens vorgestellt, und die innovative Verwendung
von "wenming" als Übersetzung von 'civilisation' kann an sich schon
als ein Meilenstein gelten. Vielleicht gerade weil der Wenming-Begriff
in DONG XI YANG KAO einen beschränkten Sinn der Kategorie der Zivilisation
implizierte, konnten die Chinesen wohl noch nicht ganz die neue Bedeutung
dieses alten chinesischen Wortes verstehen, noch weniger wohl die mit diesem
Begriff verknüpften geschichtsphilosophischen Konstruktionen. Mit
anderen Worten: Wir können, weil in der zweiten Hälfte des 19.
Jhs. die traditionellen chinesischen Begriffe ihre Bedeutung nur geringfügig
verändern, nicht definitiv die Beziehung zwischen der Verwendung von
'wenming' in DONG XI YANG KAO und dem späteren, modernen Gebrauch
von 'wenming' im China des ausgehenden 19. Jhs. feststellen.
5. China: nur 'half-civilized'
Wie bei der Entstehung und Etablierung des modernen Kultur-
und Zivilisationsbegriffs zuvor in Europa wird auch in China der Gegenstandsbereich
als solcher natürlich nicht erst mit dem modernen Begriff bewußt.
Der Kontext der einschlägigen Texte in der Zeit des Reformdiskurses
verdeutlicht, daß man, wenn es um die Vorstellung von 'Kultur' oder
auch 'Zivilisation' im mehr oder weniger modernen Sinne ging, sich in der
Regel mit traditionellen Begriffe wie 'wenwu', 'wenjiao', 'jiaohua', 'zhengjiao',
'xianghua', 'kaiming' usw. behalf. Mag sein, daß dies heißt,
daß eine bewußte Rezeption des modernen westlichen Kultur-
und Zivilisationsbegriffs in China ziemlich spät erfolgte. Einer der
ersten, die meines Wissens dem westlichen Zivilisationsbegriff bewußt
Aufmerksamkeit schenkten, ist bezeichnenderweise Guo Songtao, der als erster
Gesandter Chinas 1876 den Westen erkundete. Er schrieb - offensichtlich
tief beeindruckt von seinen Auslandserfahrungen - in seinem Tagebuch (unter
dem Datum des 5. März 1878) folgendes:
"Im Westen hält man die aufgeklärten und fortschrittlichen
Länder für civilized, und meint, zivilisierte Länder fänden
sich in Europa. China, die Türkei und Persien seien nur half-civilized.
[...] Und Afrika sei barbarian, d. h. ohne Zivilisation. Vor den drei Dynastien
Xia, Shang und Zhou kannte allein China eine Zivilisation [...], die aber
nach der Han-Zeit allmählich zugrunde ging. Es waren dann die Länder
in Europa, die sich immer weiter entwickelten und von daher sich behaupten
können. Sie betrachten China etwa so, wie die Chinesen in der Blütezeit
der drei Dynastien die Barbaren betrachteten. Wie tragisch, daß die
chinesischen Gelehrten und Beamten bis heute kaum etwas davon wissen."
(53) |
Eine Schlußfolgerung daraus kann mindestens in drei
Punkten zusammengefaßt werden: Guo Songtao hat den modernen westlichen
Zivilisationsbegriff schon als einen umfassenden Begriff referiert und
dabei auf den klaren Gegensatz der Zivilisation verwiesen: Barbarei. In
Europa beanspruchte Frankreich fast selbstverständlich die Führungsstellung
in der Spitzengruppe der Länder und Territorien der Zivilisation.
Aber der französische Nationalismus war in bezug auf die Zivilisation
nicht exklusiv, sondern er blieb der gemeineuropäischen Komponente
verbunden. Die Differenz zwischen 'peuples civilisés' und 'peuples
barbares' wurde ja zu einem (europäischen) Stereotyp. Bewußt
oder unbewußt hat Guo Songtao hier jene seit der zweiten Hälfte
des 18. Jhs. in Europa populäre Vorstellung von dem 'Grad der Kultur'
und der 'Stufe der Kultur' tangiert - zwei Wendungen, die seit den frühesten
Schriften Herders zentral sind.(54) Zweitens hat Guo Songtao den
sogenannten Zeitgeist Europas sichtbar gemacht; d.h., er hat Kultur und
Zivilisation als moderne Bewegungsbegriffe, die insbesondere mit 'Geschichte'
und 'Fortschritt' verbunden sind, veranschaulicht. Als solche sind sie
primär europäische (und allenfalls noch nordamerikanische) Besonderheiten.
Drittens scheint der Eurozentrismus den chinesischen Gesandten nicht ein
bißchen gestört zu haben. Im Gegenteil: Er gehört zu denen,
welche die für uns Heutige, sicher aber auch für große
Teile der damaligen Leserschaft überraschende gedankliche Verknüpfung
von weit zurückliegender klassischer Blütezeit Chinas und (westlicher)
Moderne - mit der Polarisierung von YI und XIA - im Kontext eines Reform-Begehrens
zustandebringen. In gewisser Hinsicht spiegeln sich gerade hier die wahren
Gefühle nicht weniger Reformorientierter wider. Was das klassische
China in seiner Blütezeit laut Guo Songtao mit dem Westen des 19.
Jahrhunderts gemeinsam hat, ist die für seine Epoche erstaunliche
Modernität; jenes China ist auf der Höhe der Zeit. Diese Einsicht,
welche den Begriff 'Zivilisation' auf beide Phänomene applizierbar,
und damit eine (positive) Charakterisierung des (vergangenen) klassischen
China auf den zeitgenössischen Westen übertragbar machte
(während man seitens solcher Reformer die Wertschätzung der
traditionalistische Kultur des aktuellen China des 19. Jh. ausschloß),
mochte schockierend radikal sein. Später (1922) hat Liang Qichao über
das Schicksal des Buches Shi Xi Jicheng [Reisebericht eines Gesandten nach
Westen] von Guo Songtao - eine Sammlung seiner Tagebucheintragungen über
die 50tägige Reise von Shanghai nach London - folgendes aufgezeichnet:
"1876 ging der Gesandte Guo Songtao nach England und
hat einen Reisebericht geschrieben, in dem es eine [die oben zitierte]
Passage gibt - etwa darüber, daß man heute die Yi-Barbaren nicht
mehr so betrachten kann wie früher; sie hätten nämlich auch
eine 2000jährige Zivilisation. Oh! Das ist ja die Höhe! Das Buch
hat in Peking unter den Literati und Beamten im Hof allgemeine Empörung
ausgelöst und wurde so geächtet, daß schließlich
auf kaiserlichen Erlaß die Druckplatte vernichtet wurde." (55) |
Lewis H. Morgan schreibt 1878 in ANCIENT SOCIETY: "It can
now be asserted upon convincing evidence that savagery preceded barbarism
in all the tribes of mankind, as barbarism is known to have preceded civilisation.
The history of the human race is one in source, one in experience, and
one in progress."(56) Wenn die Geschichte ein Prozeß fortschreitender
Zivilisierung ist, dann müssen sich Spuren der Zivilisation schon
am Beginn der Geschichte und selbstverständlich in der ganzen Entwicklung
der Menschheit finden, wobei jedem Volk der Weg in die Zivilisation offen
steht. Im China des 19. Jhs. wird aber Kultur und Zivilisation nicht selten
- bewußt oder unbewußt - für eine historische 'Episode'
erachtet, wenn auch diese 'Episode' ziemlich lang gedauert hat. Anders
ausgedrückt: Man betrachtet die Zivilisation weniger als einen Geschichtsprozeß
und sieht oft in einer bestimmten Geschichtsperiode den Anfang oder auch
das Ende der Zivilisation. In vielen Schriften aus den letzten Jahrzehnten
des 19. Jhs. taucht der Begriff 'wenming' zunächst fast nur dort auf,
wo gerade von der 'Goldenen Zeit' Chinas die Rede war, die schon längst
der Vergangenheit angehörte. "In der wilden Vorgeschichte", so schrieb
Xue Fucheng, "gab es keinen Unterschied zwischen Menschen und anderen Dingen.
[...] Aus dem öden Zustand der Urzeit erwuchs während der Tangyu-Zeit,
die Jahrtausende andauerte, 'wenming' [Zivilisation]. Diese Zivilisation
unter dem Himmel und damit der reine Frieden währte fort unter der
Xia-Dynastie [20. bis 16. Jh. v. Chr.], der Shang-Dynastie [16. bis 11.
Jh. v. Chr.] und der Zhou-Dynastie [11. Jh. bis 221 v. Chr.], bis Qin Shihuangdi,
der erste Kaiser, die anderen sechs Staaten unterwarf [...] und willkürlich
das Gesetz der Urkaiser übertrat. [...] So setzte er dem feudalen
System (fengjian) ein Ende und parzellierte das Reich in Präfekturen
(jun) und Kreise (xian)."(57) - Für den Autor wurde damit 'wenming'
[also: die Zivilisation] unterbrochen. Ein derartiger Gedankengang war
bei traditionalistischen, aber auch widersprüchlich dem Reformismus
verpflichteten Autoren um jene Zeit keine Seltenheit.(58) Es handelt
sich im hier zitierten Diskurs offenkundig bei 'wenming' um einen nicht
gängigen, beinahe antiquierten, jedenfalls auf einen nicht-zeitgenössischen
Inhalt abzielenden Begriff. Benutzt man nun aber im ausgehenden 19. Jh.
im Diskurs über das europäische und nordamerikanische Fortschrittsmodell
den Wenming-Begriff, so ist die diskursive Entfaltung des Begriffsinhalts
von 'wenming' offensichtlich beeinflußt von dem modernen westlichen
Zivilisationsbegriff, der Neues aus Altem entstehen läßt. Das
heißt: Mit dem Wenming-Begriff, der sich in der Folgezeit allgemeiner
Beliebtheit erfreut, wird eher die europäische Zivilisation assoziiert;
und der alte chinesische Wenming-Begriff hat gerade in diesem Moment neue
Akzente, eine neue Perspektive und neue Konnotationen erhalten.
Die damals gängigsten, oben schon angeführten
Kultur- und Zivilisationsbegriffe, 'wenwu', 'wenjiao' etc. bezeichneten
dagegen lange Zeit (1.) die vor allem von den Konservativen geprägte,
zugleich jedoch auch (2.) eine von den (um kulturelle Erneuerung ringenden)
Reformern beanspruchte Kultur Chinas. Und hier und da bereits auch
(3.) die im jüngsten Kontakt mit dem Westen erfahrene 'YI'-Kultur
und -Zivilisation. Da aber die an diese Begriffe geknüpfte Vorstellung
von Zivilisation und Kultur nach wie vor bei vielen Lesern beinahe automatisch
den Begriffsinhalt 'traditionelle, konfuzianistisch geprägte, chinesische
Kultur' nahelegte, bemühte man sich auf Seiten der Reformkräfte
zusehends um begriffliche Differenzierung und ging so dazu über, einen
anderen, nun mit neuem Inhalt versehenen Begriff für die 'YI'-Zivilisation
wie auch für eine angestrebte moderne chinesische Kultur und
Zivilisation zu bevorzugen. Es ist dies der alte, aber im Großen
und Ganzen 'längst aus der Mode gekommene', nun gleichsam reaktivierte,
diskursiv umgepolte Begriff 'wenming', gebildet aus: 'wen' = Schrift;
Bildung; Kultur und 'ming' = klar, hell, lichtvoll. Die etymologische
Verwandtschaft zu den europäischen Begriffen 'enlightenment' bzw.
'Aufklärung' dürfte für die nunmehrige Bevorzugung dieses
mit positivem Wertcharakter ausgestatteten Begriffs ausschlaggebend gewesen
sein. Insofern ist 'wenming' ein Begriff, der zur Abgrenzung von den kulturkonservativen
Kräften dient. Clarté (Klarheit) und enlightenment (Aufklärung)
als im Westen rezipierte Vorbilder neuer Geisteshaltungen oder Bewußtseinsformen
stehen nun im Gegensatz zu Unwissenheit und Aberglauben, die mit der obsolet
gewordenen Tradition, dem überlebten Weltbild des alten China in Zusammenhang
gebracht werden. In diesem ideellen Kontext schrieb nicht nur der erste
chinesische Gesandte im Westen die folgenden Worte: "China hat seine Zivilisation
verloren - schon vor mehr als 2000 Jahren!"(59) Noch schlimmer: Wir
sehen in der zeitgenössischen Zivilisationsdebatte noch eine These,
die dem Leser eine schreckliche Entwicklungsgeschichte Chinas vor Augen
führt - ein Szenarium, das der auf der Evolutionstheorie basierenden
Geschichtsvorstellung eines Lewis H. Morgans diametral entgegengesetzt
erscheint: "Die Zivilisiertheit und Kultiviertheit der drei Dynastien Xia,
Shang und Zhou ist in den vergangenen 2000 Jahren zugrundegegangen bis
hin zur gegenwärtigen Barbarei. Noch 2000 Jahre weiter wird die Barbarei
von heute die Menschen zu Affen, Hunden, Schweinen, Fröschen usw.
umwandeln, bis alle Lebewesen vernichtet sind. Was dann übrig bleibt,
ist die öde Wüste."(60) Es handelt sich hier bei Tan Sitong
natürlich nicht etwa um eine Art Kulturpessimismus, sondern um eine
radikale Polemik, die in ihrer Groteskheit die Chinesen aus dem 'Winterschlaf'
schrecken sollte.
Um so mehr wandten sich dann in China zahlreiche Reformer
- aus dem Bedürfnis nach einem 'neuen' Ausdruck und in bewußter
Abkehr von der Tradition - einem die materielle wie die geistige Kultur
umfassenden Kultur- bzw. Zivilisationsbegriff zu. In der nun geläufigen,
unter dem Einfluß des westlichen 'kulturellen' Ansturms sich durchsetzenden
Bedeutung meint 'wenming' Zivilisation im Sinne moderner westlicher
geistiger und materieller Kultur - grenzt sich also von einem gleichsam
überholten, traditionellen, konfuzianistisch geprägten Kulturverständnis
ab. Die Reformkräfte entdecken die kulturelle Bedeutung der Emanzipation
des von aller hohen Kultur bislang ausgeschlossenen Volkes. Sie entdecken
den Alltag und seine kulturelle Bedeutung, und so auch jene Aspekte der
Kultur, die sich stützen auf nützliche Verfahren, die Technik,
usw., wie sie überhaupt der Diesseitigkeit und nicht zuletzt einer
lebensbejahenden Sinnlichkeit einen kulturellen Wert abgewinnen. Sie entdecken
damit auch die fortschrittlichen Momente des westlichen Zivilisationsbegriffs,
die sie entsprechend den eigenen Bedürfnissen adaptieren, so etwa
Liang Qichao:
"Seit hundert Jahren haben die Völker [des Westens]
ihre eigene Stimme - daher ein Bild des Blühens und Gedeihens. Dies
hat China erst heute kennengelernt und begriffen. Innerhalb von ein paar
Jahrzehnten wird China so stark wie der Westen sein; innerhalb eines Jahrhunderts
wird China zur Zivilisation gehören. [...] Die Erde ist bereits in
das Schicksal der Zivilisierung geraten. Es tut uns not. Es braucht Veränderung."(61) |
Oder:
"Jeder sagt: wer die Zeichen der Zeit versteht, ist ein
großer Mann. Wer sagt denn nicht: im Westen sind Länder der
Zivilisation. Wollen wir unser Land voranbringen, damit es auf gleicher
Stufe mit dem Westen steht, muß vor allem unsere Zivilisation voranschreiten,
damit unsere Zivilisation und die westliche ebenbürtig sind." (62) |
Das Bemerkenswerte daran ist nicht, daß die traditionelle
chinesische Kultur und Zivilisation einer fundamentalen Kritik unterzogen
und als überholt verworfen werden; es ist auch nicht die Anerkennung
der Fortschrittlichkeit der westlichen Zivilisation, auf deren Impulse
man nicht verzichten kann; es ist vielmehr das formulierte Ziel: nicht
eine westliche Kultur zu übernehmen, zu kopieren, sondern 'unsere
Kultur' - im engen Kontakt und Austausch mit der des Westens - zu entwickeln,
damit sie der westlichen 'ebenbürtig' sein wird. Interessant an dem
innovativen Aufgreifen und Umdeuten des klassischen Wenming-Begriffs ist
wohl nicht nur, daß ein sehr alter Begriff höchst modern wird,
sondern daß man damit zugleich suggeriert, es seien die Modernen,
die Modernisierer, welche das wahre Erbe der Blütezeit des klassischen
China aufgreifen und fortsetzen.
Es ist hier zu betonen, daß der sich durchsetzende
Wenming-Begriff - ebenso wie übrigens der etwas später populär
werdende Wenhua-Begriff - sich auf das Feld des Kulturellen insgesamt beziehen.
Man kann also in der Regel durchaus nicht (etwa im Sinne gewisser deutscher
Autoren) den Wenhua-Begriff gegen den Wenming-Begriff ausspielen, so als
repräsentiere 'wenhua' eine elitäre Vorstellung von 'geistiger
Kultur', der das Innere und das Moralische zugesprochen werde, die sich
damit abhebe von 'wenming' als lediglich angelsächsisch oder französisch
beeinflußter konzeptioneller Widerspiegelung einer 'bloß materiellen
Zivilisation'. Als Zheng Guanying 1900 die neuzeitliche Zivilisation Englands
lobpries, meinte er selbstverständlich beides - geistige Kultur im
engeren Sinne und die soziokulturellen, 'zivilisatorischen' Rahmenbedingungen,
Kultur also im weiteren Sinne jener Produktionsbedingungen, welche ihre
Reproduktion und Erneuerung ermöglichen.(63) Bei Liang Qichao
sieht man allerdings, wo er den Wenming-Begriff verwendet, eine pointierte
Akzentverschiebung im Sinne der Betonung der geistigen Seite der Zivilisation.
Die jüngsten bitteren Erfahrungen Chinas vor Augen, schrieb Liang
Qichao 1899 folgendes:
"Es gibt eine materielle [xingzhi] Zivilisation und eine
geistige [jingshen]. Es ist einfach, nach der materiellen Zivilisation
zu streben; es ist schwierig, die Stufe der geistigen Zivilisation zu erreichen.
Wenn der Geist da ist, bildet sich die materielle Form von selbst. Wenn
aber der Geist fehlt, kann die Form an nichts haften. Deshalb ist die wahre
Zivilisation nur die geistige. [...] Auf dem Boden entstehen Gebäude
aus Stein, über dem Fluß eiserne Brücken; aufs offene Meer
fahren große Dampfer hinaus, Kriegsschiffe mit allen finanziellen
Kräften gekauft. Und zur Nachahmung westlicher Techniken ist das Eigentum
des Volks ausgeschöpft - Kann man dies alles als Zivilisation betrachten?
Auf keinen Fall. Warum? Es handelt sich hier ja lediglich um materielle
Sachen, nicht um Geist. Fängt man beim Streben nach Zivilisation mit
materiellen Sachen an, gerät man so nur in eine Sackgasse, [...] man
erreicht nie das Ziel und mithin sind alle bisherigen Anstrengungen vergebens.
Beginnt man beim Streben nach Zivilisation jedoch mit dem Geist, so verhält
es sich wie mit einem großen Strom - entsprungen aus einer klaren
Quelle -, der tausend Meilen ungehindert dahinströmt: unaufhaltsam
bis zum Ziel."(64) |
Abgegrenzt wird - im Zuge der neuen Verwendung von 'wenming'
als der Kategorie, die um 1900 für die Kulturdebatte und Debatte über
zivilisatorischen Fortschritt entscheidende Bedeutung erhält - die
Idee eines offensichtlich überholten, sich jedem Fortschritt verweigernden
Kulturverständnisses, welches starr am Erbe des alten China
festhalten will, von der dazu antithetischen, innovativen, dem Kulturaustausch
und damit der Auseinandersetzung mit dem zivilisatorischen Vorsprung des
'Westens' geschuldeten Kultur. Es ist eben diese neue Kultur, für
die man jetzt den Begriff 'wenming' wählt. Er bezeichnet ein allgemeines
Zivilisiert-Sein: geistig wie materiell; technisch wie in sozialer Hinsicht.
Chen Duxiu (1879-1942) versteht z. B. unter der neuzeitlichen Zivilisation
a) Menschenrechte, b) Evolutionismus und c) Sozialismus. Für ihn ist
übrigens die 'neuzeitliche Zivilisation' die europäische par
excellence,(65) und damit steht er nicht allein. Indem Intellektuelle
wie Chen Duxiu den weitgehend paradigmatischen Charakter dieser Kultur
in diesem historischen Moment akzeptieren, haben sie sich auch ein Stück
weit dem europäischen Zeitgeist angepaßt: reale Errungenschaften
auf dem Gebiet der Kultur und Zivilisation wurden zum Maßstab der
europäischen Führungsstellung in der Welt. Diese führende
Rolle wurde – bei aller Kritik am Westen, an seiner kolonialistischen Praxis
sowie seinen 'ungleichenVerträgen' und zeitgleich mit der Rezeption
der gesellschaftskritischen Theorien des Westens – in der Regel als nicht
zu übersehendes Faktum anerkannt, wie es dann auch bei Lu Xun heißt:
"[...] Aus dieser Sicht hat die europäische Zivilisation des 19. Jahrhunderts
die des Altertums übertroffen und die des Fernen Ostens in den Schatten
gestellt. Es bedarf keiner genaueren Untersuchung, um dies zu erkennen."(66)
6. Sich dem Guten zuwenden
Als Chen Duxiu, einer der linken Intellektuellen (Gründer
der chinesischen KP) und seine Zeitgenossen die im Vergleich zur chinesischen
Gesellschaft ihrer Zeit gegebene Progressivität der europäischen
Zivilisation anerkannten, betrachteten sie offenbar die Binnendifferenzierung
der Zivilisation im Westen als sekundär und hielten wenig bis gar
nichts von der Zivilisationskritik pessimistisch-konservativer Autoren
wie Spengler. Ihre Position war also vergleichbar der europäischer
Marxisten. Wie wir wissen, ist für Marx die Zivilisation (wie auch
die Kultur) im Grunde genommen eine positive, nur leider vom Kapitalismus
pervertierte Größe. Engels wirft 1844 den Herrschenden vor:
"Ihr habt die Enden der Erde zivilisiert, um neues Terrain für die
Entfaltung eurer niedrigen Habsucht zu gewinnen."(67) Daß das Moment
der Perversion die Zivilisation selbst infragestellen konnte, schien diesen
Autoren nicht abwegig. So fragt Marx 1867 rhetorisch nach dem "Vorzug dieser
kapitalistischen Zivilisation mit ihrem Elend und ihrer Degradation der
Massen vor der Barbarei".(68) Die Auffassung von Marx und Engels
ist nur eine der vielen, je nach sozialer Lage, Parteizugehörigkeit,
Religion usw. aufzugliedernden diskursiven Positionen in Europa. Lange
Zeit konnte oder wollte man in China nicht die Kehrseite der Medaille sehen
oder hielt die Schattenseiten der westlichen Zivilisation für eine
sekundäre Größe, verglichen mit dem produktiven Potential
des westlichen Modernismus. Verglich man die westliche Moderne mit dem
China, das man tagtäglich in seiner 'Rückständigkeit' erlebte,
so ergab man sich schnell einem 'allgemeinen' Schuldgefühl: die wahrgenommene
'Rückständigkeit' und Ohnmacht erschien vielen als Konsequenz
eigener Schuld, Schuld der eigenen Gruppe und Nation, nicht zuletzt Schuld
der Vorfahren. So kann man im Reformdiskurs (im Kontext der Demütigung
Chinas) immer wieder eine nicht unbedingt ausgesprochene aber tatsächlich
vorhandene Stimme wie "Das geschieht dir recht" wahrnehmen. "So degeneriert
sind die Menschen eines Landes - geistig und materiell. Wenn auch die anderen
keine Strafexpedition gegen uns unternähmen - schämt man sich
nicht, hat man überhaupt noch das Recht, auf der Erde zu existieren?"(69)
Für einen Autor wie Chen Duxiu wurden Sünde und Schande fast
zur einzigen Signatur der ganzen chinesischen Geschichte, und was den Zeitgenossen
nottat, war, so hieß es (nicht nur) bei ihm: "die uralten Sünden
bekennen, sich vom Übel abkehren und dem Guten zuwenden".(70)
Angesichts der ungelösten sozialen Fragen und vor
allem der nationalen Krise scheint das Konzept der radikal erneuerten –
ohne die lebendige Auseinandersetzung mit den avanciertesten Positionen
und Errungenschaften der zeitgenössischen, westlichen Kultur aber
nicht zu verwirklichenden – 'wenming' am vielversprechendsten, um das Reform-
und Modernisierungsprojekt durchzusetzen. Das von den Kritikern des traditionellen,
machtlosen China jetzt immer entschiedener erstrebte moderne Niveau bezeichnet
von nun an, soviel wird deutlich, für's erste der Wenming-Begriff
und damit eine Kategorie, die vor allem in der 4.-Mai-Bewegung zum entscheidenden
Maßstab und zum Inbegriff der neuen Ziele der oppositionellen Intellektuellen
wird. Bei heftiger Kritik an der chinesischen Vergangenheit und bei radikaler
Abrechnung mit der Tradition, ja mit der ganzen überlieferten Kultur
schlechthin, blickten viele Kritiker, um nicht etwa urplötzlich in
ein Vakuum zu stürzen, oder die nötige Weltorientierung zu verlieren,
vor allem nach Westen, das heißt, nach anderen Weltbildern und Kulturmodellen,
nach 'der Zivilisation'. Dies setzt freilich eine Identitätskrise
voraus und gilt daher als eine Art neuvollzogener Identifikation, denn
die 4.-Mai-Bewegung widerspiegelt ohne weiteres eine schwere Krise der
kulturellen Identität im Bewußtsein der damaligen chinesischen
Intellektuellen.(71) Allerdings vermag man dies auch umgekehrt darzustellen:
Um das Alte bzw. das mit ihm in eins gesetzte Wertsystem des Konfuzianismus
wegzufegen, brauchte man eine starke Opposition, suchte man nach neuer
Wertordnung, und im Anbetracht der politischen - in hohem Grade auch intellektuellen
- Lähmung Chinas schienen bestimmte, im Westen entdeckte Bewertungsmuster
und Werte wie Demokratie, Freiheit, Gleichheit und Wissenschaftlichkeit
die richtigen Waffen zur Zerstörung der einheimischen alten Werte
und zur Überwindung des 'Mittelalters' (d. h. der überholten
Traditionsbestände) zu sein. Brauchbare Kategorie des zeitgenössischen
westlichen Diskurses werden also angeeignet, um im eigenen soziokulturellen
Kontext als Instrumente im Kampf mit den sozialen Gegnern zu dienen und
zugleich zur Modernisierung der eigenen Kultur im Sinne der Bedürfnisse
der chinesischen Bevölkerung beizutragen. Eine Aussage von Hu Shi
(1891-1962), daß im zeitgenössischen China eine allgemeine Unzufriedenheit
mit dem vorhandenen Gedankengut herrsche und neue Erkenntnisse bezüglich
der westlichen geistigen Zivilisation die Oberhand gewonnen hätten,(72)
zeigt deutlich die Veränderung des Koordinatensystems an und deutet
hin auf einen Paradigmenwechsel. In dieser Zeit der 'Umwertung aller Werte'
ist die Ansicht von Luo Jialun (1897-1969) symptomatisch für eine
spezifische, an die von Norbert Elias kritisierte 'deutsche' Differenzierung
von Kultur und Zivilisation gemahnende Rezeption eines bestimmten westlichen
Diskursmusters : "In dem gerade vergangenen Zeitalter glaubten die Chinesen
noch, daß der Westen zwar hinsichtlich der materiellen Zivilisation
sowie der Organisation des Staates und Rechtswesens China überlegen
sei, in bezug auf die geistige Zivilisation sowie in Fragen der sozialen
Ethik sich aber immer noch nicht mit China messen könne. Erst in unserer
Zeit wurde uns schlagartig klar, daß der Westen nicht nur eine Zivilisation
nachweisen kann, sondern auch Kultur. Nicht nur in der Politik, sondern
auch in der Gesellschaft, nicht nur im Rechtswesen, sondern auch in der
Ethik ist der Westen nicht schlechter als China. Im Gegenteil: er ist besser,
gerechter und menschlicher."(73)
Gegenüber derartigen Empfindungen hat Zhang Binglin
(1869-1936) ganz früh schon seine Abneigung geäußert und
meint, daß die sogenannte Polarität von Zivilisation und Barbarei
nicht unbedingt eine allgemeine Gültigkeit hat.(74) Er tritt
sogar ganz extrem für das Abschaffen des Modebegriffs 'wenming' ein.(75)
Diese Anschauung entsteht gerade in einer Zeit, wo – wie dies Lu Xun in
seinem Artikel "Über falsche Tendenzen in der Kultur" kritisch dargestellt
hat – nach Auffassung gewisser Autoren nicht ausgesprochen werden sollte,
was nicht mit westlichen Grundsätzen übereinstimmt. In der Tat
vertreten damals ganz wenige Leute die Auffassung von Zhang Bingling, die
ja als unzeitgemäß erscheint. Betrachtet man aber Luo Jialun's
Enthusiasmus für westliche Kultur und Zivilisation bzw. den oben zitierten
pathetischen Ausdruck dieses Enthusiasmus aus dem Jahr 1920, muß
man ebenfalls feststellen, daß er auch nicht so sehr mit der Zeit
geht, weil sich der moderne Kultur- und Zivilisationsbegriff an seinem
Entstehungsort in Europa gerade in der Krise befindet. Im Zuge der zunehmenden
nationalen Widersprüche nach 1871 und besonders seit der Jahrhundertwende
wurden Begriffe wie Zivilisation und Kultur im Westen in bislang unvorstellbarer
Weise von den polemisierenden nationalistischen Ideologen instrumentalisiert.(76)
Diese Tendenz setzte sich im Weltkrieg (1914-18) und in den konservativen
Lagern auch nach 1918 unvermindert fort.
Allerdings war das europäische Selbstbewusstsein
als Folge der Barbarei des Weltkriegs – gelinde ausgedrückt – angeknackst.
Kritische, aber auch traditionalistische Autoren sprechen offen von einer
Krise der (europäischen) Kultur. Autoren wie Ludwig Renn, Erich-Maria
Remarque, Henri Barbusse, aber auch Auden, Dos Passos, Hemingway zeichnen
ein Bild der Leiden und Greuel des Weltkriegs. Dadaisten und Surrealisten
nehmen sarkastisch die angeblich überlegene europäische Kultur
und ihre Eliten auf’s Korn. Ein poetischer Irrationalist wie Artaud sucht
das Heil in einem imaginierten Tibet, Picasso ist inspiriert von der Kreativität
afrikanischer Künstler. Die Zweifel an den doch ach so unbezweifelbaren
Segnungen des Fortschritts westlich-moderner Provenienz häufen sich.
In gewissen, vor allem wohl konservativen Kreisen finden
damals kulturpessimistische Autoren – wieder einmal (und vielleicht mehr
als je zuvor) – großen Anklang. Es ist keineswegs sicher, ob die
jetzt erneut – und zwar in zugespitzter Form – vor allem von Deutschland
aus diskursiv verbreitete Antithese von 'Kultur' und 'Zivilisation' ohne
die desillusionierende Erfahrung des Ersten Weltkriegs ein derart bemerkenswertes
Echo gefunden hätte.
Von Ende 1918 bis zum März 1920 machte Liang Qichao
eine Europareise, also genau zu jener Zeit, als Europa in vieler Hinsicht
von besagter allgemeinen Dekadenzstimmung geprägt war: einer Atmosphäre
mithin, wie sie schlaglichtartig der Titel von Spenglers Buch Untergang
des Abendlandes (1918/22) beleuchtet. In Europa sah Liang Qichao angesichts
zunehmender Kritik an der Äußerlichkeit des modernen Fortschritts
durchaus schon mit anderen Augen die westliche Zivilisation und betrachtet
sie nun als einen "unnatürlichen Zustand" bzw. "krankhaften Zustand".(77)
Und "die große Pflicht der Chinesen für die Weltzivilisation"
besteht seiner Meinung nun vor allem darin, daß "jeder aus ganzem
Herzen die eigene Kultur schätzt und schützt".(78)
Vereinzelt findet man 'wenhua' als Übersetzung des
Begriffs 'Kultur' ('culture') bereits gegen Ende des 19. Jhs., jedoch noch
undifferenziert nur als Synonym der herkömmlichen Begriffe wie 'jiaohua',
'wenwu' usw. Einer der ersten, die tastend 'wenhua' von 'wenming' zu differenzieren
suchen, ist Lu Xun, jedoch ohne eindeutig anzugeben, ob er einen Unterschied
zwischen beiden Begriffen sieht. Er kritisiert z. B. Anfang des 20. Jhs.
schon die negativen Seiten der modernen 'wenming' [Zivilisation] und plädiert
für eine "tiefgründige", geistige 'wenhua' [Kultur]. Allerdings
werden die beiden Begriffe bei ihm nicht als Antithese oder Opposition
konstruiert. In gewisser Hinsicht verwendet er 'wenhua' und 'wenming' immer
noch synonym: "Die Kultur ['wenhua'] gilt oft als etwas Tiefgründiges.
[...] Demgemäß wird die Zivilisation ['wenming'] des 20. Jahrhunderts
sich durch ihre Tiefgründigkeit und Tiefsinnigkeit von der des 19.
Jahrhunderts unterscheiden."(79)
Terminologisch verfestigte sich erst in der zweiten Dekade
des 20. Jhs., als die Erkenntnis der Relativität der Maßstäbe
für 'Kultur' sich mehr oder weniger ausgebreitet hatte, allmählich
der Wenhua-Begriff, wenngleich er mehr oder weniger im Schatten von 'wenming'
stand, und drang jetzt auch langsam in den allgemeinen Sprachgebrauch ein
- dies wohl auch beeinflußt von westlichen Strömungen, die Kultur
und Zivilisation gegeneinander ausspielten: Einerseits hatten chinesische
Intellektuellenkreise die neue europäische Debatte und damit die Differenzierung
von 'Kultur' und 'Zivilisation' sowie auch jene ideologische Typologie
der großen Kulturen (oder "Morphologie der Weltgeschichte") eines
Oswald Spenglers kennengelernt. Andererseits wandten sich viele Europäer,
enttäuscht von der Entwicklung der Vergangenheit, verwirrt oder ernüchtert
von der Katastrophe des Ersten Weltkrieges, deprimiert angesichts fragwürdig
gewordene Lebensmaximen, vom eigenen Gestern ab und suchten – wie zeitweise
Artaud – alles oder nahezu alles Heil im Osten. Diese nicht nur modische
Wendung gen Osten (die wir auch bei Hermann Hesse, bei Ezra Pound, bei
Keyserling, bei R. Wilhelm und anderen finden) ist zum Teil Ausdruck einer
Sehnsucht mancher Europäer jener Jahre nach der reinen Harmonie von
Natur und Seele, wie sie etwa Zhuangzi verkörpert, oder nach der Moralität
eines Mozi oder Konfuzius. Diese Trendwende, die, stimuliert durch die
Werke gewisser Intellektueller, Dichter, und Künstler, sich damals
– zumindest an den Rändern – im Geistesleben Europas bemerkbar macht,
wirkte sich umgekehrt auch auf chinesische Intellektuellen- und Schriftstellerkreise
aus im Kontext ihres Strebens nach Identifikation und mithin bei ihrer
Suche nach der eigenen Kultur, nach 'guocui' bzw. der Quintessenz
chinesischer Kultur als "Exponat auf der Weltkultur-Messe" .(80)
Zum Schluß, um die Rezeption westlicher Theorien
im China der zwanziger Jahren einmal mehr zu verdeutlichen, möchte
ich die Anschauungen zweier Prominenter über den Kultur- und Zivilisationsbegriff
anführen und damit diese Studie beenden. Hu Shi veröffentlichte
1926 einen Artikel mit dem Titel "Unsere Einstellung zur neuzeitlichen
Zivilisation des Westens" und hat direkt am Anfang des Textes "grundlegende
Gedanken als Diskussionsbasis" aufgestellt:
1. Zivilisation ist die Gesamtleistung einer Nation im
Umgang mit und in Abhebung von der Umwelt.
2. Kultur ist die von einer Zivilisation zustandegebrachte
Lebensform.
3. Die Entstehung einer Zivilisation birgt mit Notwendigkeit
zwei Faktoren in sich: Erstens den materiellen, der mit der Kraft und dem
Wesen der Natur zu tun hat; zweitens den geistigen; dieser umfaßt
die Intelligenz und Weisheit, die Gefühle und Ideale einer Nation.
Zivilisation ist das Resultat und die Errungenschaft der Bewältigung
der Natur durch die Intelligenz des Menschen. Keine Zivilisation ist nur
geistiger Natur, ebenfalls ist keine Zivilisation nur eine materielle.(81) |
Die drei "grundlegenden Gedanken" bilden eindeutig auch Hu
Shi's Definition und Erläuterung der beiden Begriffe; und er meint
u.a., daß diese "drei grundlegenden Gedanken keiner näheren
Erklärung bedürfen und für jeden mit diesem Thema Beschäftigten
ja akzeptabel sind".(82) Direkt danach erschien ein Artikel mit dem
Titel "Zivilisation oder Kultur" von Zhang Shenfu (1893-1986), der an jedem
der drei Aspekte von Hu Shi zweifelte und dessen "Definition der Zivilisation
für alles andere als akzeptabel" hielt,(83) "weil hier geistige
und materielle Faktoren überhaupt nicht zu unterscheiden sind."(84)
Zur Widerlegung der Antithese von Zivilisation und Kultur stützt er
sich auf umfangreiches Material, um zu zeigen, daß Zivilisation und
Kultur nicht zweierlei sind:
"Es wurde behauptet, daß sich in 'Zivilisation'
eine spezifisch englische und französische, in 'Kultur' hingegen eine
spezifisch deutsche Geisteshaltung niedergeschlagen hätten. Aber für
die Forscher von heute entsprechen sich beide Begriffe weitgehend."(85) |
Von daher weist Zhang Shenfu darauf hin:
"Meiner Meinung nach sind 'wenming' und 'wenhua' im Chinesischen
nur zwei Namen für eine Sache, etwa wie 'suanxue' und 'shuxue' für
Mathematik: ein Fachausdruck und ein geläufiger Ausdruck. Man sollte
sie nicht willkürlich unterscheiden, oder höchstens in dem Sinne:
Wenhua-Kultur ist lebendig, während Wenming-Zivilisation ein Resultat
darstellt. Es sind nur zwei Aspekte einer Auffassung."(86) |
Anmerkungen:
[Fußnote (76neu ) ; Die polemischen Diskurse dieser
Zeit, die etwa deutsches Wesen dem französischen entgegensetzen und
umgekehrt, hat Hugo Dyserinck in zahlreichen Studien in bester aufklärerisch-humanistischer
Manier seziert und analysiert. Gerade in den deutschen Beiträgen aus
nationalistischer Feder I stand 'Kultur' deutlich über 'Zivilisation'.]
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